Das Universalrezept


In schweren Zeiten wie diesen fühlen sich die Bundesbürger allseits überfordert, drangsaliert oder vernachlässigt. Natürlich versuchen die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, die Union und die FDP (zusätzlich in einer Doppelrolle als Regierungspartner), verführerische Lösungsvorschläge für die Misere zu entwickeln. Mit dem Zauberwort „Digitalisierung“ hat es nicht so recht geklappt, denn der Mangel an Lehrern und Pflegekräften lässt sich nicht weg-virtualisieren, und immer noch wissen viele Blockheads wenig mit EDV und Internet anzufangen. Also musste etwas Griffiges, Entlastung und Komfort Suggerierendes her – und es wurde gefunden. Bürokratieabbau oder – schmissiger formuliert – Entbürokratisierung sind sie neuen Wohlfühl-Begriffe. Clever eingesetzt, könnte mit diesen Schlagworten so manche schmerzhafte Reform verhindert werden.


Amtshilfe für Arme? Undenkbar!


Bundesfinanzminister Christian Lindner und Unionschef Friedrich Merz haben einiges gemeinsam: So mögen sie einen „schlanken Staat“ (am besten so dünn besetzt, dass Wohlhabende leicht an ihm vorbeikommen), bedienen gern die Interessen der Wirtschaft, vor allem aber reut beide jeder Cent, der in Sozialausgaben fließt und deshalb nicht für Subventionen ausgegeben werden kann. Andererseits würden sie auf das Kleingeld gern verzichten, wenn dadurch Steuererleichterungen für Besserverdienende herausspringen. Natürlich darf man dem Volk nicht unverblümt sagen, dass Unterstützung für Arme nach neoliberaler Ansicht eigentlich rausgeschmissenes Geld ist, also packt Lindner die Bürger bei ihrer Bürokratieverdrossenheit.


Die Familienministerin Lisa Paus will nämlich endlich ein Wahlversprechen der Grünen einlösen und die versprengten Leistungen für Kinder in den Sozialgesetzbüchern oder im Bildungs- und Teilhabepaket sowie Kindergeld und -zuschlag zusammenfassen. Diese „Kindergrundsicherung“ würde feste Beträge garantieren, da sich die Eltern nicht mehr im Antragsdschungel oder Behördenlabyrinth zurechtfinden müssten (was bislang nicht selten scheiterte). Vielmehr wäre eine neue Behörde in der Pflicht, ihnen die Leistungen automatisch zukommen zu lassen. Dass dazu 5000 neue Verwaltungsstellen geschaffen werden müssten, war wohl zu hoch gegriffen und wurde inzwischen korrigiert.


Für Merz, dem schon das Bürgergeld gegen den Strich ging, war sofort klar, dass auch bei der Kindergrundsicherung gespart werden müsse. Lindner hingegen fand die Vorstellung, dass der Staat eine „Bringschuld“ bei Sozialleistungen habe, „verstörend – erst recht, wenn dafür 5000 neue Staatsbedienstete eingestellt werden müssen“.


"Können wir die armen Kinderlein schon nicht genügend auspressen, sollen sie wenigstens nicht auch noch mehr Geld von uns bekommen!"


Für weniger „verstörend“ hält Lindner offenbar die Tatsache, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut lebt, während seines Aufwachsens in prekären Verhältnissen oft genug auf Bildungs- und Sportmaterialen, Ausflüge, Reisen, gesundes Essen oder didaktisches Spielzeug, kurz: auf so ziemlich alles, was den Intellekt und das seelische Wohlbefinden während des Heranwachsens fördert, verzichten muss und seine weitere Laufbahn schon frühzeitig als Sackgasse definiert. Selbstredend hat ein verantwortungsbewusst regierter Staat die Pflicht, rechtzeitig einzugreifen, auch mit finanziellen Mitteln, um das Scheitern von Existenzen in naher Zukunft zu verhindern. Nicht umsonst drängen Wohlfahrts- und Sozialverbände auf eine rasche Umsetzung der Gesetzesänderung. Natürlich sind dazu neue Staatsdiener nötig, da es wesentlich mehr Arbeit verursacht, den Menschen unaufgefordert und gezielt zur Hilfe zu kommen, als ihnen vom Schreibtisch aus beim Irrweg durch die Ämter zuzuschauen. Die FDP sieht das anders, schließlich handelt es sich nicht um ihre Klientel.


Nette Blockade in Brüssel, auf Feld und Flur


Aber Lindner kann auch großzügig sein, etwa zu den Bauern, denen er sich kürzlich als Landwirtschaftsexperte vorstellte, hatte er doch schon einmal einen Pferdestall ausgemistet (der destruktive Saustall in der Lobby-Partei FDP harrt allerdings noch seiner Tatkraft). Zwar könne auch er die vollständige Steuerbefreiung für Agrardiesel nicht mehr retten, aber er versprach den ländlichen Demonstranten die Lösung ihrer vordringlichsten Probleme durch – Entbürokratisierung.


Wie sich die gestalten lässt, konnte man unlängst in Brüssel beobachten, wo sich Liberale und Europäische Volkspartei (mit CDU/CSU als Mitglied) darauf einigten, den Landwirten die Subventionen, die sie für die Stilllegung ihrer Böden zum Zweck der Renaturierung bekommen hatten, auch künftig zu lassen, obwohl die dringend nötige Maßnahmen zur Regeneration von Auen, Wäldern oder Mooren ausgesetzt wurden („Money für Nothing“). Heldenhaft verteidigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) das Abrücken von einem Plan, den sie zuvor so leidenschaftlich propagiert hatte.


Die Bauern ächzten unter den bürokratischen Belastungen, hieß es, sie seien mit der Dokumentation ihrer Maßnahmen überfordert (was vermutlich für die Beantragung der Subventionen nicht zutrifft). Nun sei das Landvolk von dem lästigen Papierkram und Emailverkehr zum Nachweis seiner Bemühungen um das Klima befreit – die Erderwärmung kann ja wohl noch ein bisschen warten.


Was den Ackersmann freut, kann auch für Handel und Produktion in fernen Ländern nicht schlecht sein, dachte sich die FDP und blockierte das EU-Lieferkettengesetz im Alleingang. Zu aufwendig und unfair den wohlmeinenden Kapitalisten gegenüber, befanden die Liberalen. Die deutschen Konzerne würden von ihrem Daseinszweck, nämlich irgendwie hohen Umsatz und Profit zu generieren, abgelenkt, wenn sie sich darum kümmern müssten, dass in Bangladesch die marode Fabrikhalle nicht über den Näherinnen zusammenbricht, dass Kinder in die Schule statt auf die Plantage zur Ernte hierzulande begehrter Südfrüchte gehen oder dass die Beschäftigungsverhältnisse nicht archaischer Sklavenarbeit (mit der VW do Brasil bereits intensive Erfahrungen gesammelt hat) ähneln. Schon beim Gedanken daran wird dem FDP-Fraktionschef im Bundestag, Christian Dürr ganz mulmig zumute. Es drohe die Gefahr, dass sich Unternehmen aus Angst vor Bürokratie und rechtlichen Risiken zurückzögen, bangt der Liberale.


Wir verstehen: Tote Arbeiter, von Pestiziden versehrte Kinder oder rechtlose Tagelöhner rechtfertigen noch lange nicht die Implementierung wirksamer Kontrollen, da für deren Durchführung Verwaltungskräfte von ihrer Kernaufgabe, der Absicherung von Profitmaximierung, abgezogen werden müssten. Außerdem lassen sich in der Dritten Welt indisponierte oder verstorbene Arbeitskräfte leicht ersetzen…


Der große Förderer Wissing


Dürrs Parteikollege Bundesverkehrsminister Volker Wissing wäre eine Quelle ständiger Heiterkeit, würde er nicht nebenher als größter und unbelehrbarster Luftverschmutzer der Republik fungieren: Gerade erst hat er in einem Brief der Bevölkerung mit Fahrverboten an zwei Wochentagen  für den Fall grdoht, dass das Klimaschutzgesetz nicht bald so novelliert werden sollte, dass seinem Ressort die Senkung der Verkehrsemissionen erspart bleibt (nachdem Wissing sie während seiner Amtszeit noch weiter hat ansteigen lassen). Dies bedeutet nicht, dass der Minister plötzlich zum radikalen Umweltschützer mutiert ist, vielmehr gebärdet er sich wie ein trotziges Kind: Keine Weekend-Trips und LKW-Warentransporte mehr an Wochenenden! Das haben euch meine Ampelpartner, die Klimaschützer  und andere Traumtänzer eingebrockt, die mich zu wirksamen, aber luxusfeindlichen Schritten drängen wollen, liebe Wähler.


Den naheliegenden ersten Schritt zur CO2-Einsparung aber will er weiter nicht gehen. Was haben wir schon gelacht über die Begründungen, mit denen der FDP-Kämpe, der eigentlich für eine drastische Absenkung der Verkehrsemissionen zuständig wäre, die dafür prädestinierte Beschränkung auf 130 km/h in der Spitze auf hiesigen Autobahnen ablehnt. Kleine Kostprobe: „Die Deutschen wollen kein Tempolimit“, erklärte der Minister zu einem Zeitpunkt, da sich laut repräsentativer Umfrage 54 Prozent der Bundesbürger für die Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h aussprachen und selbst der ADAC in der Sache Einsicht signalisiert. Noch skurriler wirkt das „Argument“, mit dem er selbst ein befristetes Tempolimit ausschließt. Es würde natürlich einen „erheblichen Aufwand“ verursachen, und außerdem: „So viele Schilder haben wir gar nicht auf Lager.“


Zwar weisen Experten darauf hin, dass sich der Schilderwald auf den Autobahnen signifikant ausdünnen ließe und bei dauerhaftem sowie allgemeinem Tempolimit die 130 nur noch an den Staatsgrenzen plakatiert werden müssten, doch fällt dem Minister sogleich ein neues seltsames Ausschlusskriterium ein: In der Regierungskoalition gebe es keine Mehrheit für eine flächendeckende Geschwindigkeitsbegrenzung. War die öffentliche Zustimmung von SPD und Grünen zur Entschleunigung reine Heuchelei, Fake News sozusagen? Oder hat sich die FDP heimlich zur Koalitionsmajorität geputscht? Nur Wissing scheint es zu wissen.
Ein paar Schilder mit Tempo 130 würden also „erheblichen Aufwand“ in der Fabrikation, der Montage und natürlich in der Bürokratie bedeuten, da bevorzugt der Minister den schnellen Coup, der uns seiner Meinung nach von Klima-Problemen befreien kann. Zusammen mit dem Freistaat Bayern wird Wissing 150 Millionen Euro in das Flugtaxi-Unternehmen Volocopter stecken.


Zwar ist nicht damit zu rechnen, dass aus den Deutschen ein Volk von Flugtaxi-Passagieren wird, dass das potentielle Gewimmel über den Städten emissionsfrei vor sich geht, dass diese Mini-Lösung erschwinglich für Normalsterbliche ausfällt und dass sie überhaupt einen wahrnehmbaren ökologischen Effekt zeitigt, doch imponierend ist schon, wie unbürokratisch sich der Ressortchef von der Lobby-Arbeit folgender Volocopter-Investoren überzeugen ließ: der NEOM Company des saudischen Kronprinzen (und Mörders) Mohammed Bin Salman, der Mercedes Benz Group AG, der Schenker AG (angeschlagene Bahn-Tochter), des Chip-Herstellers Intel, des Vermögensverwalters BlackRock (Herr Merz lässt grüßen!) und des IT-Konzerns Microsoft. Söders dubioses Prestigeobjekt hat also Vorfahrt - ganz ohne pingelige Evaluation durch Fachbehörden...


Manchmal wünscht man sich im Stillen mehr statt weniger Fachkräfte in der Bürokratie, etwa Rechnungsprüfer, Steuerfahnder, Kripo-Beamte und Sachbearbeiter mit Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität, Angestellte in den Jugendämtern etc. Aber das wäre in den Augen der liberalen und christdemokratischen Hüter der heilen Geldspeicherwelt von Entenhausen ja so etwas wie Blasphemie.


04/2024


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