Lateinamerika-Dossier


1. Kolumbien: Preis ohne Frieden

2. Mexiko: Tod in Michoacán

3. Guatemala: Der Schlächter




1. Preis ohne Frieden

    Kolumbiens endloser Zyklus der Gewalt


 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kolumbien zu Beginn der 1980er Jahre: der Barrio Popular Uno (oben), die Müllkippe von Medellín (Mitte), der Slum El Vergel in Cali (unten)








 








Am vergangenen Freitag kündigte das zuständige norwegische Komitee die Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an den kolumbianischen Staatspräsidenten Juan Manuel Santos an. Offenbar wollten die Juroren mit dieser Geste das Ende eines langen Bürgerkriegs beschwören, denn eigentlich gibt es noch nichts zu ehren und zu feiern, vor allem keinen Friedensschluss im Land der violencia, der multilateralen Gewalttätigkeit.


Hardliner mit dunkler Vergangenheit


Die frohe Kunde war aus Kuba gekommen, den Kolumbianern indes fehlte der Glaube. Die kolumbianische Regierung und die Farc (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) hatten in Havanna das Ende des längsten lateinamerikanischen Guerilla-Krieges verkündet. Nach rund 52 Jahren sollten die Kämpfer der FARC ihre Waffen niederlegen. Kubas Ex-Staatschef Fidel Castro und Papst Franziskus hatten beide Parteien zu dem Friedensschluss gedrängt. Doch als der Friedensvertrag bereits unterzeichnet war, lehnte eine knappe Mehrheit kolumbianischer Wähler im notwendig gewordenen Referendum die Aussöhnung ab. Ein seit ewigen Zeiten von Hass und chaotischer Brutalität geprägtes Land verpasste möglicherweise eine historische Chance – die allerdings auch vor dem Volksentscheid äußerst vage war, da zu viele Protagonisten der unvorstellbaren Gewaltexzesse nicht mit am Verhandlungstisch saßen.


Am 2. Oktober konnten die Kolumbianer über den in Cartagena unterzeichneten Friedensvertrag zwischen der Regierung Santos und der Farc (Bewaffnete Revolutionsfront Kolumbiens) entscheiden. Bei einem positiven Ergebnis hätten die 8000 (von einst mehr als 30.000) aktiven Guerilleros binnen sechs Monaten ihre Waffen abgeben müssen und sich in den politischen Prozess des Landes integrieren können. Ein während des Krieges begangenes schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre danach geahndet worden, die bloße Teilnahme am Aufstand hingegen nicht. Mehr als 2000 inhaftierte Farc-Kämpfer hätten auf ihre Entlassung hoffen dürfen.


Die Statements der Verhandlungspartner klangen vielversprechend: "Lasst uns gemeinsam eine neue Etappe unserer Geschichte beginnen", sagte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos in Bogotá. Und der Farc-Chefunterhändler Márquez rief elegisch: „Reichen wir uns die Hände und rufen gemeinsam: Nie wieder!" UN-Generalsekretär Ban ki-moon begrüßte die Einigung ein wenig zu früh, und US-Präsident Obama gratulierte der Regierung in Bogotá ebenso voreilig zur Beendigung des längsten Bürgerkriegs in Lateinamerikas Geschichte.


Doch von 35 Millionen wahlberechtigten Kolumbianern gingen nur 13 Millionen zur Urne. In unseren Medien wurden die Ablehnung der weitgehenden Amnestie für die Farc-Kämpfer sowie das laxe Abstimmungsverhalten à la Brexit als Hauptursachen für das negative Votum ausgemacht, doch vermutlich gab es triftigere Gründe.

Tatsächlich stimmte die ländliche Bevölkerung in den umkämpften Gebieten mit überwältigender Mehrheit dem Friedensvertrag zu – wenn sie denn wählen konnten. In dem an Bodenschätzen und Agrarprodukten so reichen Land sind fast zehn Prozent der Erwachsenen Analphabeten, und für Millionen von Menschen in den Großstadtslums oder in isolierten Dörfern sind weder globale oder nationale Tagesinformationen zugänglich, noch die Determinanten eines  politischen Entscheidungsprozesses verständlich. Zudem dürfte die Zustimmung zum Friedensprozess in von korrupten Sicherheitskräften und rechten Paramilitärs kontrollierten Regionen lebensgefährlich gewesen sein. Zur Wahl hingegen ging geschlossen das Fußvolk der Großgrundbesitzer und reaktionären Unternehmer, propagandistisch angespornt und logistisch unterstützt von Álvaro Uribe, der finstersten Gestalt im Kolumbien der Gegenwart.


Der frischgebackene Nobelpreisträger war einst der engste Verbündete Uribes gewesen und wurde während dessen Präsidentschaft zum Verteidigungsminister ernannt. In dieser Zeit war Juan Manuel Santos zumindest in zwei Skandale verwickelt: Er soll beim Aufbau der gefürchteten paramilitärischen Verbände mitgewirkt haben und war für die Aussetzung eines Kopfgeldes für getötete Farc-Rebellen zuständig, was dazu führte, dass 3000 Unbeteiligte ermordet und in Guerilla-Uniformen gesteckt wurden. Nach den ersten Jahren als Präsident schien sich Santos vom bellizistischen Saulus zum pazifistischen Paulus zu wandeln, begann Friedensgespräche mit der Farc und brach deshalb mit seinem Paten Uribe. Dieser aber blieb der starke Mann der Rechten im Hintergrund und triumphierte beim Referendum über seinen ungehorsamen Nachfolger.

  

Uribe, der von 2002 bis 2010 Präsident Kolumbiens war, strickte schon früh an einer Legende, die ihn als unversöhnlichen Rächer seines Vaters, eines Großgrundbesitzers, ausweisen sollte. Dieser sei 1983 von Farc-Guerilleros getötet worden, als er einer Entführung entkommen wollte. Ein Bericht des US-Geheimdienstes DIA geht allerdings davon aus, dass die Verwicklung von Uribe Senior in den Drogenhandel zu dessen Ermordung durch konkurrierende Gangster geführt hat. Der Sohn blieb im Geschäft: Die DIA führte ihn als Nummer 82 in der Rangliste der wichtigsten narcotraficos des Landes. Dann wurde Álvaro Uribe Bürgermeister von Medellín und unterstützte den Boss der Bosse, Pablo Escobar, bei dessen Versuch, sich zum stellvertretenden Parlamentsabgeordneten wählen zu lassen.


Als Präsident bekämpfte der „enge, persönliche Freund“ von Escobar später die Guerilla, aber auch Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten mit rücksichtsloser Härte, unterhielt dagegen beste Beziehungen zu den Paramilitärs, deren Todesschwadronen eine blutige Spur durchs Land zogen. Uribe ist gerade wegen seiner skrupellosen Brutalität in Kolumbien fast so beliebt wie der Lynch-Massenmörder Rodrigo Duterte auf den Philippinen. In Zeiten höchster Unsicherheit und ausweglosen Elends scheinen faschistoide Machos Hochkonjunktur zu haben. Nun also reüssierte der ehemalige Geschäftspartner des berüchtigten Medellín-Kartells als Verhinderer eines Friedensvertrags.

    

Doch auch ohne die Querschüsse des rechten Kriegstreibers Uribe müsste man die ersten Schritte zur Resozialisierung einer ganzen Gesellschaft auf vermintem Boden unternehmen. Allzu viele Kräfte stehen Gewehr bei Fuß, um das Schwinden der eigenen Macht zu verhindern, und das Misstrauen zwischen langjährigen Todfeinden ist nicht sofort auszuräumen; besonders fatal aber ist, dass keine der Ursachen, die einem anfangs rein sozialen und politischen Aufstand zugrunde lagen, beseitigt wurde.

   

Die Ursprünge der Gewalt


Die Geschichte Kolumbiens im vorigen Jahrhundert verlief von Beginn an in Zyklen des Blutvergießens, des Landraubs und der Vertreibung. Ab 1948, als Jorge Eliécer Gaitán, der Führer der Liberalen, erschossen wurde, kulminierte der meist latente, bisweilen offen geführte Krieg der Reichen gegen die Armen in einer beispiellosen Eruption von Brutalität, in ganz Lateinamerika unter dem lapidaren Begriff la violencia (die Gewalt) bekannt, einer Mordorgie, die bis heute anhält. Die Großgrundbesitzer der Konservativen Partei, durch den Kaffee-Boom reich und gierig geworden, begannen, mit Hilfe von Armee und Söldnern die Kleinbauern zu vertreiben, um sich ihre Ländereien anzueignen. Die Liberalen protestierten zwar in wohlgesetzten Worten dagegen, den Blutzoll aber entrichteten die campesinos, die gegen die Enteignung von oben zu den Waffen griffen oder in die Berge gingen, um dort kurzlebige autarke Republiken zu gründen. In seinem Standardwerk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ schrieb Eduardo Galeano:


Der lange schon schwelende Hass der Bauern kam zum Ausbruch, und während die Regierung Polizisten und Soldaten aussandte, um Hoden abzuschneiden, schwangeren Frauen die Bäuche aufzuschlitzen und die Kinder in die Luft zu werfen und mit den Bajonetten aufzufangen, nach dem Motto „ auch nicht das kleinste Saatkorn lassen“, sperrten sich die Doktoren der Liberalen Partei in ihren Häusern ein, ohne sich in ihren feinen Umgangsformen oder dem Kavalierston ihrer Manifeste erschüttern zu lassen, und im schlimmsten Fall gingen sie ins Exil.


Zehn Jahre dauerte die violencia bis zur Niederlage der Aufständischen gegen hochgerüstete Militärs, 180.000 Menschen starben, doch an den feudalen Strukturen auf dem Land und der industriellen Ausbeutung in den Städten änderte sich nichts. Während Konservative und Liberale nach mehr oder weniger manipulierten Wahlentscheidungen einander an der Staatsspitze abwechselten, ging die Gewalt weiter, flaute höchstens für kurze Zeit ab. Es gab Krieg um die Smaragde aus der Region am Amazonas, Streiks wurden blutig unterdrückt, und das Kokain fing an, den Kaffee als lukrativstes Exportgut zu verdrängen. Aus zügellosen Verbrecherbanden, die jeder Reiche mieten konnte, wurden hochorganisierte Kartelle, die nun selbst die Politik und die Oligarchie zu durchdringen begannen.


Doch auch der Widerstand flammte mit neuer Intensität auf: Die Farc und das ELN (Nationales Befreiungsheer), die beiden Guerilla-Gruppen, die heute noch aktiv sind, formierten sich 1964. Sie brachten große unzugängliche Gebiete zumindest zeitweise unter ihre Kontrolle, sahen sich aber bald den Soldaten, Paramilitärs, Berufskillern der Drogenkartelle, Privatarmeen der Oligarchen und Soldaten wie Söldnern aus den USA gegenüber. In diesem „neuen“ Bürgerkrieg wurden bis heute an die 300.000 Kolumbianer umgebracht, zwischen fünf und neun Millionen Menschen emigrierten oder versuchten, als Flüchtlinge im eigenen Land zu überleben.

  

Der Alltag der Gewalt


Wer sich jemals in Kolumbien umgesehen und sich dabei nicht nur in den Hochsicherheitstrakten der Villenghettos aufgehalten hat, weiß, warum die einen für die Sicherung und Ausweitung ihres Besitzes töten lassen und die anderen solche Machtverhältnisse umstürzen wollen. Durch den Drogenhandel, den Export von Erdöl, Steinkohle, Gold, Silber, Platin und Kaffee sowie eine relativ entwickelte Industrieproduktion zirkulieren in dem traumhaft schönen, von Touristen aber aus nachvollziehbaren Gründen gemiedenen Land seit Jahrzehnten Multi-Milliarden von Dollar, wobei sich der Geldkreislauf weitestgehend zwischen den Angehörigen der Oligarchien und einer verhältnismäßig kleinen (oberen) Mittelschicht abspielt. Nach unten, in die Elendsviertel der Großstädte oder in die verarmten Landstriche zwischen den Flusstälern des Rio Cauca und Rio Magdalena sickerte kaum etwas durch, stattdessen wurden diese Gegenden von einer Welle der Gewalt überflutet.


Die Enteignung der Kleinbauern durch die Großgrundbesitzer schwemmte Millionen von ihrem Land vertriebener Familien an den Rand der Städte. Die Slums, die dort entstanden, waren illegal und wurden Invasionsgebiete genannt. Irgendein cleverer Bourgeois, von findigen Winkeladvokaten beraten, ließ normalerweise umgehend einen Besitztitel für das bis dahin wertlose Niemandsland auf dem Katasteramt eintragen, forderte einen horrenden Preis bzw. eine unverschämte Pachtsumme für ein Terrain, auf dem es kein sauberes Wasser, keine Elektrizität und keine Straßen gab. Wenn die „Eindringlinge“ nicht zahlen konnten oder wollten, wurden oft genug Polizisten und Soldaten mit der Räumung beauftragt.


Anfang der 1980er Jahre lebten allein auf der Müllkippe von Medellín mehr als 20.000 Menschen. Als ich eine Gruppe von ihnen zusammen mit einigen Priestern, die ihre Hauptaufgabe nicht im Seelenfang, sondern im sozialen Engagement sahen, befragte, erklärten ihre Sprecher, sie seien ganz zufrieden, da der Abfall der Wohlhabenden ihre Existenzgrundlage bilde. Sie hatten sich in zwei Genossenschaften organisiert, von denen die eine sich auf Schrott spezialisiert hatte, während die andere Papierreste dem Recycling zuführte – eine frühe Form unserer Mülltrennung, aber aus purer Not geboren. Viele Kinder aber stürben wegen des verunreinigten Wassers, an verdorbener Nahrung und giftigen Ausdünstungen, teilte mir einer der wenigen Ärzte mit, die auch Slum-Bewohner behandelten.


Es waren Befreiungstheologen, die im berühmten Barrio Popular Uno, einem anderen Elendsviertel in der Drogen-Kapitale Medellín (damals übrigens weltweit die Großstadt mit den meisten Morden) eine rudimentäre Infrastruktur schufen, Handwerkskooperativen initiierten, Kinder in neue Schulen holten und den Bau von Häusern aus Stein vorantrieben. Doch sie wurden argwöhnisch beobachtet, und die Mächtigen im Zentrum der Drei-Millionen-Metropole der Provinz Antioquia ließen tagsüber des öfteren Polizisten aufmarschieren, nachts besorgten deren Kollegen von den Todesschwadronen auf der Suche nach „Verbrechern“ (vor allem aber nach Subversiven und sozialpolitischen Aktivisten) das blutige Geschäft. Wenig später setzte sich Pablo Escobar ein Denkmal, indem er Millionen in die Infrastruktur von Popular Uno investierte, ein Grund dafür warum der 1993 auf der Flucht erschossene Massenmörder und Kokain-Zar noch heute von manchen Armen verehrt wird.


Ein Mord durch einen der in Bars oder am Flughafen herumlungernden sicarios, wie die meist jungen Auftragskiller genannt wurden, kostete damals 200 Dollar, Menschenleben waren in Medellín wenig wert. Wenn der erzreaktionäre Kardinal Lopez Trujillo, ein Günstling des späteren Heiligen Vaters Ratzinger, dessen Papstwahl er auch mit dubiosen Methoden forciert hatte, einen linksverdächtigen Priester vom Kirchendienst suspendierte, wurde dieser zur vogelfreien Person. Einem der Priester, die ich in Medellín getroffen hatte, widerfuhr das klerikale Verdikt. Kurze Zeit später wurde er auf den Stufen der Universität von Antioquia, wo er sich als Dozent über Wasser hielt, erschossen.


In Cali, dem zweiten Kokain-Zentrum des Landes, traf ich den aus Oberfranken stammenden (und 2015 verstorbenen) Jesuitenpater Alfred Welker, der später einen legendären Ruf weit über die kolumbianischen Grenzen hinaus erlangen sollte, buchstäblich in der Kloake. Die Bewohner der barrios El Vergel und El Retiro hatten sich am Rande der Zwei-Millionen-Stadt angesiedelt, und zwar dort, wohin die Kanalisationsrohre die Fäkalien aus der City leiteten. In einer schäbigen Hütte begutachtete Welker den Gesundheitszustand von neun ausgesetzten Babys, die in roh gezimmerten Laufställen krochen oder in Krippen lagen. „Der Junge dort könnte es schaffen, die Kleine hier wird nicht überleben“, analysierte er kühl und sachlich. Hunger und Mangelernährung fordern bis heute nicht nur unter den Kleinsten viele Opfer – und das in einem Land, das in weiten Teilen so fruchtbar und klimabegünstigt ist, dass es den halben Subkontinent ernähren könnte.


Welker schaffte es, eine Räumung der Invasionsgebiete durch einen Trick zu verhindern und die damals 55.000 Einwohner der beiden barrios zu beträchtlichen Teilen zu organisieren. Steinhäuser wurden gebaut, Strom wurde (zunächst) illegal abgezapft, und ein Schul- und Berufsbildungszentrum für 8000 Kinder und Jugendliche entstand. Es wurden mehrere Anschläge auf ihn verübt. Bei einem Besuch in Nürnberg erzählte er mir, dass es beim gefährlichsten der Überfälle, den er schwerverletzt überlebte, weil er sich unter seine Pritsche rollte, städtische Polizisten gewesen waren, die auf ihn geschossen hatten. In Kolumbien hatte er über die Identität der Täter geschwiegen, um nicht des Landes verwiesen zu werden. Immerhin musste sich nach diesem Attentat, das im ganzen Land Schlagzeilen machte und den Volkszorn hochkochen ließ, die Obrigkeit Calis zähneknirschend mit ihm arrangieren.

 

Seit dieser Zeit hat sich wenig an den Strukturen in Kolumbien geändert: Die Mächtigen lassen ihre Killer weiterhin bei Bedarf von der Leine, die Effekte eines bescheidenen Wirtschaftswunders sind für die Mehrheit nicht spürbar; immer noch hungern Kinder, immer noch sterben Menschen an der violencia.


Krieg mit vielen Fronten


Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, kritische Geistliche, gewissenhaft recherchierende Journalisten oder Bauern, die den Feudalherren im Weg sind – die Blutspur zog und zieht sich durch die kolumbianische Gesellschaft. Unter den Hauptakteuren gibt es Drahtzieher der Gewalt und von ihr Profitierende, geistige Urheber und physische Vollstrecker, nur gänzlich Unschuldige wird man kaum finden.


Auch die beiden verbliebenen Guerilla-Organisationen haben sich in Schuld verstrickt, denn ihre Methoden des Befreiungskampfes ähnelten allzu oft den Verbrechen ihrer Feinde. Die Farc, eigentlich auch gegen die Drogenbarone angetreten, verbündete sich gelegentlich mit den Kartellen und verdiente bisweilen am Kokain mit. Ihre streng hierarchische marxistisch-leninistische Doktrin (Eigeneinschätzung) wurde von Kämpfern, deren politische Bildung eher gering war, oft als Freibrief zur rigiden Unterdrückung von unkooperativen Dörflern bis hin zu deren Vertreibung und Liquidierung interpretiert. Die Farc versuchte sogar mehrmals, die linken Konkurrenten vom ELN zu eliminieren, und besorgte so das Geschäft der Machthaber in Bogotá. Bei Entführungen ging sie wahllos vor, wie das Kidnapping der grünen Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt belegt.


Das ELN, eher an Che Guevara denn an Stalin orientiert, gab sich nach autoritären Anfangszeiten ein basisdemokratisches Programm und ließ die Finger vom Drogenhandel. Doch auch sie sprang nicht zimperlich mit Andersdenkenden um und refinanzierte sich teilweise durch Entführungen.

 

Viel furchterregender als die beiden Guerilla-Armeen wirkt in ihrer materiellen Potenz und Zügellosigkeit aber die Koalition aus den verrohten Regierungstruppen, korrupten Polizisten und völlig hemmungslosen, von den Killern der Drogenkartelle und Privatmilizen der Landherren verstärkten Paramilitärs. Zwar sollten letztere bereits 2002 nach einem Amnestieversprechen demobilisiert werden, doch erlebten sie unter der Regierung Uribe/Santos ein fulminantes Comeback. Und dann stehen unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung noch reguläre GIs sowie – im Rahmen des militärischen Outsourcings der US-Regierung – Söldner des seit ihrem Irak-Einsatz weltweit berüchtigten Kriegsunternehmens Academi (früher Blackwater) in Kolumbien.


Dass das ELN vier Jahre lang ergebnislos mit der Regierung über einen Friedensschluss verhandelte, dass Dissidenten die Führung der Farc für die Zusage, die Waffen abzugeben, kritisierten, hat historische Gründe: In den 1980er Jahren waren über 3.500 Mitglieder der legalen Linkspartei Unión Patriótica von den Todesschwadronen ermordet worden. Auch als das Movimiento 19, die im Volk wohl beliebteste Rebellengruppe, 1990 den militärischen Kampf aufgab und sich in eine Partei umwandelte, wurden seine Kandidaten zu lebenden Zielscheiben. Es gehört keine besonders krude Phantasie dazu, sich vorzustellen, was unbewaffneten Ex-Guerilleros künftig droht.

    

Wer nicht am Verhandlungstisch saß


Was mit dem Referendum nun nachträglich abgelehnt wurde, war das Ergebnis bilateraler Verhandlungen, an denen einige der wichtigsten Parteien nicht teilnahmen: Auf der einen Seite fehlten (aus erwähntem Grund) das ELN, drangsalierte und verfolgte Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter der Opfer staatlicher (oder staatlich gebilligter) Gewalt. Ihnen gegenüber hätten Abgesandte jenes Schreckenskartells Platz nehmen müssen, dessen Spitzenkräfte ihre Vermögen und Latifundien durch gedungene Mörder, Söldner und Milizionäre so offensiv schützen lassen, dass der von den Palästen entfesselte Krieg bis in die letzte Hütte dringt. Ex-Präsident Álvaro Uribe, der als Sachwalter dieser ehrenwerten Gesellschaft den Friedensvertrag, vorgeblich wegen der weitgehenden Amnestie für die Farc-Kämpfer, ablehnte, hätte dann erklären können, wie er sich die Ahndung der zahllosen von seinen eigenen Marionetten und Verbündeten begangenen Massaker vorstellt.


Es hätten auch Vertreter der Regierung in Washington zugegen sein sollen, um darzulegen, auf welche Weise und in welcher Intensität sich die USA in einen Bürgerkrieg mischten und versuchten, Kolumbien zu einem Stützpunkt auszubauen, von dem aus sozialistische Entwicklungen in den Nachbarländern Venezuela und Ecuador effektiv bekämpft werden konnten.


Der Krieg ist also nicht zu Ende. Womöglich wäre er auch nicht vorbei gewesen, wenn das Referendum ein positives Ergebnis gehabt hätte. Im Augenblick kungeln der gescheiterte Präsident und geehrte Preisträger Santos und der obsiegende Amtsvorgänger Uribe eine Revision des Friedensvertrags aus, in der wohl ausgelotet werden soll, wie viel der Farc zugemutet werden kann.


Immerhin kündigte Farc-Kommandant Rodrigo Londoño alias Timoschenko an, dass seine Kämpfer den Waffenstillstand mit der Regierung weiter einhalten würden. Wenigstens an dieser Kriegsfront (von vielen in Kolumbien) herrscht einstweilen Ruhe. Ob aber die Umwandlung der Guerilla zur politischen Partei von den Oligarchen und ihren Paramilitärs zugelassen und ob es zur längst überfälligen Landreform kommen wird, bleibt zum Leidwesen einer Bevölkerung ohne viel materielle und geistige Überlebenschancen sehr fraglich.

 

10/2016


Dazu auch:

Die offenen Adern im Archiv dieser Rubrik






 

2. Tod in Michoacán 

     Der Drogenkrieg verwüstet Mexikos Hinterland











 

    










 

 

 

 



















Patzcuaro in friedlicheren Tagen



Auch wenn Religion, christliche Dogmen und Hirtenworte normalerweise nicht zur Erklärung der Welt taugen, kann ein Priester die Wahrheit sagen. So geschehen, als der Papst unlängst in Morelia gegen die Korruption des mexikanischen Staates und die Allmacht der Drogen-Monopole wetterte. Die Halbmillionenstadt ist Kapitale von Michoacán, einem südwestlichen Bundesstaat zwischen Sierra Madre und Pazifik. Diese noch teilweise indigen geprägte Region mit ihren grünen Bergen, Pinienwäldern, kleinen Seen und pittoresken Städten wirkte einst wie ein Paradies en miniature innerhalb des mexikanischen Mikrokontinents. Heute herrschen Gewalt und Angst in Michoacán, die Menschen fliehen von dort – Opfer eines entfesselten Marktes mit Abnehmern und Profiteuren in den USA und Europa.

Implosion eines ruhigen Landstrichs

Vor einem Vierteljahrhundert hatte ich einige Monate in der Kolonialstadt Patzcuaro am gleichnamigen See, eine knappe Autostunde von Morelia entfernt, gewohnt. Gedanken an diesen Aufenthalt und die Rede des Papstes in diesem sonst weitgehend vergessenen Gebiet riefen mir Eindrücke eines Hochlandes mit üppiger Vegetation und ländlicher Idylle ins Gedächtnis, aber die Bilder von damals trügen: Das Michoacán, das ich kannte, existiert nicht mehr; es ist den Gesetzen des freien (ungehemmten) Marktes zum Opfer gefallen, im Chaos der Kokain-Ökonomie und im von der Kokain-Exekutive und deren staatlichen Kontrahenten angezettelten Blutbädern untergegangen.

Der Bundesstaat Michoacán erstreckt sich vom südlichen zentralen Hochland Mexikos auf knapp 60.000 Quadratkilometern bis zum Pazifischen Ozean im Westen. Ein Großteil der heute vielleicht fünf Millionen Einwohner leben in Städten, die auf 2000 Meter oder wenig darunter liegen, wie Morelia, Uruapan oder eben Patzcuaro. Die Landschaft ist freundlicher, grüner als in vielen anderen Gegenden Mexikos, Koniferen ersetzen hier die Orgelpfeifen-Kakteen der östlichen Gebirgsketten, grüne Hügel die endlosen Steinwüsten des Nordens. Dennoch verirrten schon in den 1990er Jahren verhältnismäßig wenige Touristen nach Michoacán, es fehlte an Badestränden, und die alten Städte erlangten aus kaum unerfindlichen Gründen nie den legendären Ruf von Oaxaca oder San Cristóbal. Dabei ist Morelia, dessen Hochschule bereits 1551 gegründet wurde, vermutlich die älteste Universitätsstadt (damals noch unter dem Namen Valladolid) auf dem gesamten Kontinent und noch heute ein ebenso prachtvolles Beispiel spanischer Kolonialarchitektur mit ihren Monumenten, großzügigen Plätzen und mächtigen Kirchen wie das wesentlich kleinere Patzcuaro. In dessen Nähe liegen die gut erhaltenen Tempelanlagen von Tzintzuntzan, erbaut vom Volk der Purepecha- oder Tarasco-Indianer, einem Volk, das den Azteken an Macht und Einflusssphäre nahekam.

Michoacán mit seinen bis 3800 Metern aufragenden Bergen, dem klaren Himmel, der Blütenvielfalt in einem ewigen Frühling wirkte auf Besucher wie ein Gegenentwurf zur smogverseuchten Metropole Mexiko-Stadt oder zu den hektischen Millionenstädten Guadalajara und León. Bis die Drogenkartelle in die Idylle einfielen, bis sich überall Banden und Syndikate zu organisieren begannen, die Macht an sich rissen und die Strukturen der Kommunalverwaltungen und des Alltagslebens zum Einsturz brachten...

Der mexikanische Kokain-Krieg

Natürlich war Michoacán auch vor 25 Jahren kein Garten Eden gewesen. Ich erinnere mich an Meldungen über die üblichen häuslichen Gewalttaten im Mezcal-Rausch, einige Überfälle auf Busse und PKWs, die Entdeckung von Marihuana-Pflanzungen, die notorische Korruption der Polizei oder die Angst vor einer Cholera-Epidemie im Pazifikhafen Lázaro Cardénas. Bettler klapperten die Straßen Patzcuaros und Morelias ab, und vor allem der indigene Teil der Bevölkerung blieb, was er seit der Conquista immer gewesen war: arm und weitgehend rechtlos. Und doch wirkte die Region, angesichts der Kriminalität in den nördlichen Bundesstaaten Sonora oder Chihuaha, dem Bordellgürtel am Rio Grande, oder der Gewalt der Großgrundbesitzer gegen die Maya-Nachfahren im südlichen Chiapas und der Bürgerkriegssituation im zentralamerikanischen Nachbarland Guatemala, fast wie ein Hort des Friedens.

Das änderte sich, als kurz nach der Jahrtausendwende der Krieg der Drogenkartelle untereinander und gegen die staatlichen Sicherheitskräfte auf das gesamte mexikanische Territorium übergriff. Was Jahrzehnte zuvor die kolumbianischen Großstädte wie Medellín und Cali zu Hochburgen von Mord und Terror gemacht hatte, wiederholte sich nun in Mexiko landesweit und in höherer Potenz. Wie in den Sagen und Tragödien der Antike entstanden und zerfielen mächtige Reiche, obsiegten Verrat und Heimtücke, spalteten und zerstritten sich Allianzen, wurden ganze Ländereien verwüstet; nur geschah alles im Tempo des Zeitraffers, und ein Ende ist auch heute nicht in Sicht.

Am Anfang ging es nur um Drogenhandel, um den Export von Marihuana, vor allem aber um die Lenkung und Kontrolle der Handelsströme des wesentlich lukrativeren Kokains. Zunächst dominierten die Kartelle der Golfküste und des Nordens, ehe an der Pazifikküste das Sinaloa-Kartell die Macht an sich riss. In Michoacán entstand zur gleichen Zeit La Familia, eine weitverzweigte Organisation, die mit ihrem Clan-Bewusstsein und pseudo-sozialem Anspruch an die süditalienische und sizilianische Mafia erinnerte.

Jede Gruppierung suchte die anderen an Brutalität zu übertreffen, und von jeder spalteten sich früher oder später Dissidenten ab, die das Ausmaß der Gewalt in neue Dimensionen schraubten. So begannen die Zetas, ehemalige Elite-Soldaten der mexikanischen Luftwaffe, damit, die Konkurrenten en masse zu massakrieren und ihren Einfluss bis nach Guatemala auszudehnen, wo sie Angehörige der gefürchteten Kaibiles, einer Armee-Spezialtruppe, die für die Folterung und Ermordung unzähliger Mayas verantwortlich war, rekrutierten.

No-Go-Area Michoacán

In Michoacán zerfiel das Kartell La Familia allmählich. Aus den Ruinen erstand eine abstrus anmutende, aber äußerst grausame Bande: die caballeros templarios, die Tempelritter. Jener militante geistliche Orden, der einst von der französischen Krone blutig liquidiert wurde, lieferte das Sujet für unzählige Horrorfime, in denen untote Kriegermönche ihrerseits Lebende rabiat ins Jenseits befördern. An solchen Streifen dürften sich die mexikanischen Gangster eher orientiert haben als an den historischen Tatsachen, immerhin entlehnten sie dem späten Mittelalter lediglich die mystisch-morbide Methoden, verbreiteten etwa Angst und Schrecken, indem sie (wie übrigens auch die Zetas)  zahlreiche Gefangene enthaupteten und inspirierten möglicherweise so auch den IS.

Nachdem der damalige Staatspräsident Felipe Calderón 2006 den Drogenkartellen den Krieg erklärt hatte, zerfiel das ganze Land in unübersichtliche Kampfgebiete mit wechselnden Fronten. Gangster massakrierten sich gegenseitig oder verbündeten sich gegen die Streitkräfte, korrupte Polizisten mordeten auf eigene Rechnung oder ließen sich von den Kartellen kaufen; die Armee konnte (oder wollte) bald nicht mehr zwischen Bandenmitgliedern und Kleinbauern unterscheiden. Eine vorsichtige Bilanz weist 185.000 Ermordete in den letzten zehn Jahren aus, angesichts der vielen Verschwundenen und der Entdeckung ständig neuer Massengräber kann von wesentlich mehr Opfern ausgegangen werden.

Eine neue Eskalationsstufe erreichte der Drogenkrieg, als am Unabhängigkeitstag 2008 in Michoacáns Hauptstadt Morelia Granaten inmitten feiernder Massen explodierten, acht Menschen töteten und 131 weitere, zum Teil schwer, verwundeten. La Familia hatte (vermutlich in Zusammenarbeit mit den Zetas) dem Staat ihre Macht demonstriert und zum ersten Mal in der neueren mexikanischen Geschichte einen Terroranschlag, der an die Blutbäder im Nahen Osten erinnerte, verübt.

Wie danach der bis dato friedliche und etwas schläfrige Bundesstaat Michoacán bis zum Chaos destabilisiert wurde, zeigt die folgende (unvollständige) Aufstellung kriegerischer Ereignisse, eine Kurz-Chronik des Schreckens: Im Mai 2011 sperrt die Miliz eines Drogenkartells zwei Tage lang eine Straße in der Stadt Apazingán. Die Behörden schließen 40 Schulen und fordern die Bürger auf, den Ort zu verlassen, worauf 2500 Einwohner fliehen. Zwei Jahre später besetzen Einheiten von Armee und Polizei mehrere Städte in Michoacán – wie es heißt, unter dem Beifall der Bevölkerung. Im selben Jahr greifen die Tempelritter das Gefängnis von La Unión an und töten zwei Wächter. Ende Oktober versuchen 300 Bewaffnete, Apatzingán erneut zu stürmen, die Tempelritter sprengen aus diesem Anlass Tankstellen und Kraftwerke in die Luft, worauf 400.000 Menschen ohne Strom sind. Wenige Tage später übernimmt die Kriegsmarine den Hafen von Lázaro Cárdenas, setzt 50 Polizisten, die mit den Gangstern kooperiert hatten, fest und entlässt die Zöllner aus dem selben Grund. Im Mai vorigen Jahres schossen die Tempelritter einen Hubschrauber der Luftwaffe mit einem Granatwerfer ab. An der Grenze zu Jalisco, das ebenso wie Michoacáns anderer Nachbarstaat Guerrero unter dem Krieg der Kartelle leidet, kommt es zwei Wochen später zu einem Feuergefecht zwischen schwerbewaffneten Drogenhändlern und der Bundespolizei, bei dem mindestens 37 Gangster und zwei Beamte sterben.

In einigen Gegenden Michoacáns gründen sich unterdessen Bürgerwehren. So übernehmen 400 Mann einer Selbstverteidigungsmiliz im November 2014 die Kontrolle über die Ortschaft Tancitaro, wobei drei Menschen ums Leben kommen. Das Beispiel Kolumbiens lehrt, dass solche selbsternannten Schutztruppen kaum kontrollierbar sind, dubiose Interessen verfolgen und in der Regel nur eine weitere Kriegspartei darstellen.

Tod in Mexiko, Konsum in den USA

Das Geschäftsmodell der Kartelle gründete in erster Linie (und zunächst ausschließlich) auf dem Vertrieb von Kokain. Diese Droge hat Heroin (und die vergleichsweise milden Cannabis-Produkte) hinsichtlich der Profitabilität längst verdrängt, obwohl sie im Gegensatz zu dem gefährlichen Opiat in der handelsüblichen Form eine vernachlässigbare Sucht-Affinität aufweist (geringer als die von Nikotin). Die Bauern in Bolivien und Peru kultivieren die Koka-Pflanzen von alters her zu medizinischen Zwecken oder als Ausdauer-Stimulans. Erst zu Koka-Paste verarbeitet und in Labors, vornehmlich in Kolumbien, zu Kokain-Pulver raffiniert, wird das Handelsgut und Politikum daraus, bei dem es um Multi-Milliarden weltweit geht.

Der von den Neoliberalen zur göttlichen Instanz ausgerufene Markt regelt in diesem Fall wirklich alles, auch die Lebensverhältnisse in den verschiedenen Weltregionen: Während in Lateinamerika produziert, transportiert und gestorben wird, konsumieren US-Bürger (und Europäer) die Waren, und die Nachfrage garantiert auch noch ihren Großbanken glänzende Gewinne. Denn so viele Milliarden Dollar auch bei den Kartellen hängen bleiben mögen, der sicherste Profit wird beim Waschen der Unsummen verdient. Mit Barclays und der HSBC wurden bereits zwei der größten Geldhäuser Europas überführt, aber man darf davon ausgehen, dass so ziemlich alle bedeutenden Finanzinstitute dieses Globus in die hygienische Aufbereitung der Blut-Moneten involviert sind. Weitere lukrative Möglichkeiten bietet der Drogenkrieg der deutschen Waffenindustrie: Mit dem G36-Sturmgewehr der emsigen Schwaben von Heckler & Koch schießen mittlerweile alle Kontrahenten aufeinander - und auf Unbeteiligte.

Aus dem Interesse von Lobbyisten an solch prächtiger Gewinn-Maximierung erklärt sich wohl auch die hartnäckige Weigerung der Regierungen, Kokain zu legalisieren, wie es seit langem von Drogen-Experten, Entwicklungshelfern und sogar Slum-Priestern gefordert wird. Durch diese Maßnahme würden die Preise verfallen, Schmuggel und Vertrieb lohnten sich für die Kartelle nicht mehr. Zudem könnte die Herstellung der wirklich gefährlichen Kokain-Mixturen und Derivate wie Crack durch staatliche Überprüfung verhindert werden. Die Entkriminalisierung des Konsums, verbunden mit einem behördlich kontrollierten Verkauf (ähnlich dem von Marihuana in Uruguay und einigen US-Bundesstaaten), würde aber eine derzeit sprudelnde Einnahmequelle für die internationale Finanzwirtschaft versiegen lassen. Und welcher Politiker im Amt wagt es schon, in einen florierenden Markt einzugreifen?

Stattdessen haben die Verantwortlichen in Washington und Brüssel es zugelassen, dass Kokain zum nach Erdöl wichtigsten Rohstoff im Welthandel aufstieg, und sehen weiter ungerührt zu, wie ganze Staaten, etwa Honduras oder Guatemala, im Würgegriff der Kartelle zu ersticken drohen, die Lebenserwartung mexikanischer Männer seit Beginn des Drogenkrieges kontinuierlich sinkt und einst relativ friedliche Regionen wie Michoacán zu No-Go-Areas verkommen. Wo die campesinos die Äcker im Kreuzfeuer der Kriegsparteien bestellen müssen, träumen sie – ähnlich den Leidensgenossen auf dem syrischen Schlachtfeld – nur noch von der Flucht nach Norden. Auf die von Arkaden gesäumten Plätze von Morelia wagt sich nachts niemand ohne triftigen Grund, die präkolumbischen Tarasco-Ruinen am Patzcuaro-See und die schwarzen Lavaklippen bei Uruapan bleiben ohne Besucher – selbst die ohnehin kargen Einnahmen durch den Individualtourismus fehlen den gebeutelten Menschen jetzt. Und in den benachbarten Bundesstaaten sieht es ähnlich aus.

Mittlerweile könnte selbst eine sofortige Kokain-Legalisierung für den Kampf gegen die Kartelle zu spät kommen, denn die Rauschgift-Barone haben  längst damit begonnen, ihre Geschäfte zu diversifizieren und auszuweiten. Heute verdienen sie Geld auch mit dringlichen Angeboten von Objekt- und Menschenschutz, Lösegeldern nach Entführungen und dem Handel mit Raubkopien. Wenn ein Boss geschnappt oder eine Bande geschwächt wird, nehmen zeitnah die Konkurrenten deren Plätze ein. Unsere Wirtschaftsweisen könnten den Kartellen attestieren, dass sie die neoliberale Marktlehre und die kapitalistische Personalpolitik vorbildlich verinnerlicht haben.

04/2016

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3. Der Schlächter

 

Die Aufarbeitung und Ahndung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt in Lateinamerika nur stockend voran – vor allem wenn sich die Interessen der Täter mit denen der US-Administration deckten. Für viele überlebende Folteropfer und Hinterbliebene von Ermordeten war es niederschmetternd, Pinochet in Chile friedlich sterben zu sehen und miterleben zu müssen, wie sich die argentinischen Junta-Generäle jahrzehntelang in Sicherheit ihrer Pension erfreuen durften, ehe sie während der Regierung Nestor Kirchners wenigstens unter Hausarrest gestellt wurden.

 

Umso bedeutender ist die Nachricht aus Guatemala, dass der grausamste aller Schlächter des heimgesuchten Subkontinents rund 30 Jahre nach seiner Schreckensherrschaft im eigenen Land des Genozids schuldig befunden wurde. Ex-General Efraín Ríos Montt wurde wegen elf Massakern an Ixil-Mayas, bei denen 400 Dörfer zerstört, 1.100 Bewohner umgebracht, 1.400 Frauen vergewaltigt und Schwangeren die Bäuche aufgeschlitzt wurden, zu insgesamt 80 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass unter Ríos Montt „Hunger, Massenmord, Vertreibung, Vergewaltigung und Bombardierungen aus der Luft als Taktik zur Zerstörung der Ixil angewendet wurden“. Der Grund: Die Indianer wurden verdächtigt, mit den linksgerichteten Guerilleros sympathisiert zu haben.

 

Die 18 Monate des Montt-Regimes sind das fürchterlichste Kapitel im 36 Jahre dauernden, nach der Mexikanischen Revolution und neben der kolumbianischen Violencia wohl blutigsten Bürgerkrieg Lateinamerikas. Beinahe unbeachtet von der Weltöffentlichkeit starben zwischen dem Beginn der Kampfhandlungen 1960 und dem Friedensschluss zwischen den vier Guerilla-Organisationen und der Regierung im Jahre 1996 weit über 200.000 Menschen; in der Mehrzahl waren indigene Kleinbauern die Opfer, und meist kamen sie bei brutalen Kampagnen der Armee oder der Para-Militärs ums Leben. Die Lunte, die schließlich zur Explosion führen sollte, war bereits 1954 von der CIA gezündet worden: Gemäß der Truman-Doktrin, nach der die USA überall in der Welt nach Gutdünken eingreifen durften, beauftragte die Eisenhower-Administration den Geheimdienst, von Honduras aus den während eines kurzen demokratischen Intermezzos mit 65 Prozent der Stimmen gewählten Präsidenten Jacobo Arbenz aus dem Amt zu putschen. Arbenz war sozialistischer Tendenzen verdächtigt worden, unter  anderem weil er die United Fruit Company, jenen Stachel im Fleisch der mittelamerikanischen Gesellschaft, gegen geringe Entschädigung enteignen wollte. Nach dem Coup wechselten sich etliche sinistre Gestalten, meist Generäle und allesamt Rassisten, an der Machtspitze ab. Die indianische Bevölkerungshälfte wurde generell als subversiv eingestuft, die Lebenserwartung in den verarmten Dörfern und Slums verringerte sich kontinuierlich. Um den Einfluss der Guerilleros einzudämmen, wurden Wehrdörfer errichtet, Napalm-Angriffe geflogen, Indios in Sippenhaft genommen und oft wahllos umgebracht.

 

Bereits unter dem Montt-Vorgänger Lucas García hatten sich die paramilitärischen Hilfstruppen und Todesschwadronen der Regierung eine besonders perfide Methode ausgedacht, die Mayas einzuschüchtern und gegebenenfalls zu dezimieren. Sie entführten Indianer (aber auch verdächtige Lehrer und Priester), ermordeten sie und legten sie weitab von ihrem Dorf öffentlich aus, sodass die Verwandten oft erst nach Wochen erfuhren, welches Schicksal ihre Angehörigen erlitten hatten. In der Regime-Presse war dann unisono von secuestrados por no conocidos („von Unbekannten entführten Menschen“) die Rede. Anfang 1981 habe ich selbst in Antigua die Leichen von fünf Indianern gesehen, die in einem Schulhaus zur Identifikation auslagen. An Armen und Beinen waren deutliche Folterwunden zu erkennen.

 

Die Situation eskalierte zu einem permanenten Blutbad, als sich Ríos Montt im März 1982 an die Macht putschte. In den eineinhalb Jahren seiner Terror-Herrschaft allein wurden bis zu 70.000 Menschen ermordet. Montt war eine bizarre Figur, die selbst aus einem verbalen Scherz lähmendes Entsetzen generieren konnte. Einige Sequenzen in von der ARD ausgestrahlten Interviews blieben mir im Gedächtnis haften. So erklärte er auf die Frage, ob es zutreffe, dass er Gegner aufhängen ließe: „In arabischen Ländern hängt man Feinde auf. Guatemala ist ein zivilisiertes Land, wir erschießen sie.“ Auf seine Ausrottungspolitik gegen die Mayas angesprochen, sagte er lakonisch: „Sie sind gegen uns, also töten wir sie.“

 

Selbst seinen Generalskollegen wurde Ríos Montt langsam unheimlich und so setzten sie ihn im August 1983 ab, obwohl er eigentlich dieselbe Strategie verfolgte wie sie, nur eben mit noch brutalerer Konsequenz. Damit aber war Montts Rolle noch nicht ausgespielt. In den Jahren nach dem Friedensschluss war ihm zwar als ehemaligem Putschisten durch die Verfassung die Möglichkeit einer Präsidentschaftskandidatur (die von der weißen Oberschicht durchaus begrüßt worden wäre) verwehrt, doch schickte er erfolgreich Strohmänner ins Rennen. So erklärt sich auch die späte Verurteilung als Völkermörder.

 

In dem Prozess gegen Ríos Montt spielten die internationalen Verbindungen und Begünstigungen des Diktators wie der anderen hohen Militärs in Guatemalas Schaltzentrale des Schreckens offenbar keine Rolle. Ansonsten wäre vielleicht publik geworden, dass Angehörige einer Armee, die in ihrem Furor bei der Verfolgung indianischer Flüchtlinge sogar die mexikanische Grenze mehrmals überschritt, unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Hamburger Bundeswehr-Akademie trainiert wurden. Wofür?

 

Doch es blieb dem US-Präsidenten Ronald Reagan vorbehalten, den Massenmörder in den Zeiten seines Vernichtungsfeldzugs heiligzusprechen. Bei einem Treffen mit Montt am 4. Dezember 1982 im honduranischen San Pedro Sula sagte Reagan vor Journalisten: „Ich weiß, dass Präsident Ríos Montt ein Mann von großer persönlicher Integrität und Verbindlichkeit ist... Meine Regierung wird alles tun, um ihn bei seinen fortschrittlichen Bemühungen zu unterstützen.“

 

Die Tochter des Diktators ist übrigens mit dem einflussreichen Republikaner Jerry Weller, der bis 2009 für Illinois im Repräsentantenhaus saß, verheiratet.

 

Vielleicht war der Jubel im Gerichtssaal verfrüht, möglicherweise werden Montts Anwälte mit Tricks und Drohungen in der Revision einen Freispruch erreichen, vielleicht hebt der jetzige Präsident Otto Peréz Molina, der als ehemaliger General selbst der Beteiligung an Massakern beschuldigt wird, das Urteil auf, unter Umständen haben der Richter und der Staatsanwalt nicht mehr lange zu leben – die Verurteilung bleibt doch ein Zeichen, dass auch in Lateinamerika die Opfer Genugtuung erfahren können. Allzu viele der von Efraín Ríos Montt Verfolgten werden dies aber nicht mehr erlebt haben.


                      

Nachtrag: Dieser Beitrag wurde am 12.05.2013 ins Netz gestellt. Acht Tage später erreicht uns die - befürchtete - Nachricht. Das oberste Gericht Guatemalas hat auf Antrag der Montt-Verteidiger den Schuldspruch aufgehoben. Der Fall muss neu verhandelt werden.