- Graham Greene (Die grauen Niederungen der Menschheit)

- Ambrose Bierce (Zwischen Realismus und schwarzer Romantik)

- Kazuo Ishiguro (Wenn Hoffnungen zu Erinnerungen werden)

- Georges Simenon (Jenseits der Krimis um Kommissar Maigret)

- Antonio Lobo Antunes (Der portugiesische Sprach-Magier) 

- Carlos Fuentes (Das mexikanische Spiegelbild der Welt)

- Annie Proulx (Chronistin des nordamerikanischen Herzlandes)

- Miguel Ángel Asturias (Der Vergessene des Magischen Realismus)

- Flann O`Brien (Weltliteratur aus Irland: Anarchie und Humor)

- Louise Erdrich (Eine indigene Stimme in den Vereinigten Staaten)

- Malcolm Lowry (Ein bizarres Leben "Unter dem Vulkan")

- Juan Rulfo (Mit zwei dünnen Büchern zu literarischem Weltruhm)

- Carson McCullers (Die große Autorin aus den Südstaaten)


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Graham Greene


Kaum ein Autor des 20. Jahrhunderts wurde von Kollegen, Lesern und Kritik so kontrovers eingeschätzt wie der Engländer Graham Greene. Zu den Gegnern des Großneffen von R. L. Stevenson („Dr. Jekyll und Mr. Hyde“) gehörten die Juroren des Stockholmer Akademie, die ihn mehrere Jahrzehnte lang ignorierte, obwohl er der am häufigsten nominierte Autor in der Geschichte des Literatur-Nobelpreises war, zu den Feinden die US-Geheimdienste, die ihn seit den 50-er Jahren bis zu seinem Tod 1991 bespitzelten, sowie die Diktatoren François „Papa Doc“ Duvalier (Haiti)und Alfredo Stroessner (Paraguay), die sich in seinen Romanen als die Bluthunde, die sie tatsächlich waren, wiederfanden.


Greene war ein Mensch der permanenten Widersprüche und (scheinbaren?) Gegensätze. Mit 22 Jahren konvertierte er zum Katholizismus, wobei sein Gottesbegriff leicht nihilistische Züge aufwies. „Ich musste eine Religion finden, um meine Bösartigkeit daran zu messen“, erklärte er einmal. In Romanen wie „Die Kraft und die Herrlichkeit“ oder „Ein ausgebrannter Fall“  thematisierte er die Frage von Schuld und Verantwortung sowie der persönlichen Erlösung in einer maroden Welt, die von ihrem ignoranten Schöpfer verlassen wurde, wobei die Atheisten in seinem Personal oft die sympathischeren Figuren abgaben. Auch dies dürfte dazu geführt haben, dass der Vatikan einige der Werke auf den Index der verbotenen Bücher setzte.


Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Greene als Agent für den britischen Secret Service in Westafrika (ähnliche Tätigkeiten soll er auch später noch übernommen haben). Seine dort erworbenen Insider-Kenntnisse sowie seine sarkastische Rezeption von Geheimdiplomatie und Rüstungsspionage verarbeitete er unter anderem in der brillanten Schlapphut-Farce „Unser Mann in Havanna“.


In den frühen 30-er Jahren hatte Greene mit der englischen KP geflirtet, sich dann später vom Stalinismus abgewandt, um mit zunehmendem Alter in seinen Romanen immer kritischere Positionen zum Neo-Kolonialismus des Westens einzunehmen. Die düstere Hemisphäre, in der seine Protagonisten, charakterlose Opportunisten, Feiglinge, die plötzlich (vergeblich) Mut zeigen, oder kleine Ganoven, die unversehens in die Rolle von Helden wider Willen schlüpfen, von einer Niederlage zur anderen stolpern, haben Literaturkritiker „Greeneland“ getauft. Auf den Autor selbst trifft die Definition von Ambrose Bierce im „Wörterbuch des Teufels“ zu, der Zyniker sei ein Mensch, der die Welt so sehe, wie sie sei, und nicht, wie sie sein sollte.


Wie eine Bombe schlug 1955 der Roman „Der stille Amerikaner“ des damals bereits weltberühmten Autors ein – weniger in der literarischen Welt als vielmehr in den Zentren westlicher Machtpolitik. Ein Jahr nach der Niederlage von Dien Bien Phou und dem daraus resultierenden Abzug der französischen Kolonialtruppen  aus Vietnam geschrieben, erzählt der Roman von der Begegnung des abgehalfterten englischen Kriegskorrespondenten Fowler mit dem jungen sympathischen Amerikaner Pyle in Saigon kurz vor dem Exodus. Wie immer bei Greene sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Pyle gehört zur klandestinen Vorhut der späteren US-Invasoren und versucht, durch Terrorakte das Debakel der störenden Franzosen zu beschleunigen. Als er Fowler nebenher auch noch die Konkubine ausspannt, wird dieser zum Verräter mit pseudo-moralischer Rechtfertigung. Greene hatte das fatale und lethale US-Engagement in Indochina mit solcher Klarheit vorausgesehen, dass er fortan auf Anweisung der Administration in Washington beschattet wurde. Als er sich auch noch mit Fidel Castro und Omar Torrijos, dem progressiven Präsidenten Panamas, der 1981 durch einen (von der CIA fingierten?) Flugzeugabsturz ums Leben kam, anfreundete, durfte er nicht mehr in die USA einreisen, da er mit „Feinden Amerikas“ paktiere.


Wie Joseph Conrad („Herz der Finsternis“), der die Tropen als dramatischen Schauplatz der Weltliteratur entdeckt hatte, verlagerte sich auch Greenes Werk mit zunehmendem Alter mehr und mehr vom nebligen England in die Regionen der exotischen Schönheit, des allgegenwärtigen Elends und der nackten Gewalt. Und wie Conrad, der ihn vielleicht neben Eliot und Malraux am meisten beeinflusst hatte, sah er die Szenerie mit den Augen des weißen Mannes, aber anders als sein Vorgänger sah er vor allem die Schuld und Unzulänglichkeiten der selbsternannten Pioniere einer dort unbrauchbaren Zivilisation. In den Afrika-Romanen „Das Herz aller Dinge“ und „Ein ausgebrannter Fall“ transferieren die europäischen Helden ihre Sinnkrise in eine ihnen unzugängliche Landschaft und Gesellschaft ersticken letztendlich an lächerlichen Missverständnissen.


Zweimal geriet die Diktatur des deutschstämmigen Caudillo Stroessner in den Fokus seiner kritischen Epik: Die Tragikomödie „Die Reisen mit meiner Tante“ entlarvt den Terrorstaat Paraguay als ein korruptes Operettenszenario, in dem echtes Blut fließt; in „Der Honorarkonsul“ entführen im Nachbarstaat Argentinien Stroessner-Gegner versehentlich den britischen Provinz-Repräsentanten Charley Fortnum, ein versoffenes Wrack, das, im Stich gelassen von seinen Vorgesetzten und betrogen von seiner Frau, allein eines jener Massaker überlebt, wie es lateinamerikanische Sicherheitskräfte zu jener Zeit anzurichten pflegten.


Den Höhepunkt als Autor erreichte Greene meines Erachtens 1966 mit dem zugleich bizarren und tieftraurigen Roman „Die Stunde der Komödianten“. Der indifferente Ich-Erzähler Brown, der sich als Hotelier versucht, der naive Amerikaner Smith, aussichtsloser US-Präsidentschaftskandidat einer Splittergruppe, und der unbedeutende Hochstapler Jones kommen ins Alptraum-Haiti von Papa Doc Duvalier, dessen gespenstische Killertruppe, die Tontons Macoute, die bettelarme Bevölkerung ausplündert. Während Brown die Situation durchschaut und fatalistisch kommentiert, sieht der gutwillige Möchtegern-Politiker aus den USA zwar die Katastrophe, begreift aber nichts. Eine unerwartete Entwicklung durchläuft derweil der kleine Gauner Jones, der sich zum Märtyrer einer aussichtslosen Rebellion aufschwingt. Gekontert wird das Bild dieses seltsamen Triumvirats der „Komödianten“ durch die Figur des schwarzen Marxisten Doctor Magiot, der als einziger verantwortlich, wenn auch ohne Hoffnung handelt, und in auswegloser Lage auf seine Mörder wartet.


Aus Greenes Spätwerk ragt der wieder im britischen Geheimdienst-Milieu angesiedelte Roman „Der menschliche Faktor“ als bitteres Exempel für Machtspiele, in deren Verlauf erklärte Demokraten zu der südafrikanischen Apartheid, gewissenhafte englische Agenten zu Sowjet-Überläufern mutieren und Individuen bedenkenlos geopfert werden, heraus. „Monsignore Quijote“ ist eine milde und gleichzeitig ironische Parabel für die Allianz einer Armenkirche mit undogmatischen Linken im Kampf gegen hemmungslose Kommerzialisierung und Relikte der Franco-Diktatur in Spanien. „Ein Mann mit vielen Namen“, der letzte Roman des damals 83-jährigen, hingegen belegt, dass die stilistische Sicherheit und die messerscharfe Beobachtungsgabe des Autors im Alter gelitten haben; zu verschachtelt, schwer nachvollziehbar und unwahrscheinlich wirkt die Handlung.


Langeweile, die er zeit seines Lebens gespürt und die er durch Alkohol und Reisen zu bekämpfen versucht habe, sei auch die Antriebskraft für sein Schreiben gewesen, erklärte Graham Greene in seinen Memoiren. Walter Leonhardt, der den Autor persönlich kannte, charakterisiert ihn als „Einzelgänger“ ohne Lobby, der sich von der Literaturwissenschaft schwer einordnen ließ, als Mann zwischen allen Stühlen, den einen „zu unmoralisch und ketzerisch“, den anderen, vor allem den Kritikern, „zu unterhaltend“.


In der Tat ist die relativ geringe Wertschätzung des Autors durch die Feuilletons (im Gegensatz zu seinem Ruf bei Kollegen wie Faulkner, der „Ende einer Affäre“ als einen der großen Romane bezeichnete) wohl durch die breite Streuung der Themen, die verständliche Sprache und die Untiefen des Frühwerks bedingt. In den 30-er Jahren begann Greene mit gehobenen Kriminal- oder Spionage-Romanen wie „Das Attentat“ oder „Jagd im Nebel“, die sprachliches Können, aber keine weitergehenden Ambitionen verrieten. Erst mit „Brighton Rock“ (deutscher Titel: „Am Abgrund des Lebens“) stieß er in neue Dimensionen vor. Der junge Gangster Pinky, der kurz vor seinem Ende den einzigen Menschen, der ihm Gefühl entgegengebracht hat, auf die abscheulichste Weise verletzt, ist eine archetypische Inkarnation emotionaler Verwahrlosung und daraus resultierender finaler Bosheit.


Graham Greene war nie ein Neuerer der Sprache wie James Joyce, er schuf keinen in sich schlüssigen Mikrokosmos wie Faulkner, aber er wusste viel über die reale Welt und arbeitete es in lakonischem Stil und mit meisterhaften Dialogen in seine durchaus spannenden Geschichten ein. Die Großkritiker mögen seine Plots als zu wenig verrätselt empfunden haben, doch gelang es ihm, den Lesern ein höchst kompliziertes und problematisches Geschehen dramatisch  zu vermitteln. Mancher von ihnen erahnte erstmals die Dimensionen jenseits einer raffiniert-schlichten Handlung und karger Beschreibungen, und dies ist ein signifikantes Merkmal für Weltliteratur. Greeneland war eben die Erde mit all ihren Kontinenten und den verhängnisvollen Verwicklungen auf und zwischen ihnen – zu umfassend und zu wirklichkeitsnah für elitäre Formalisten. Die durch die kosmopolitische Erfahrung gewonnene Analyse des Zeitgeschehens  ermöglichte es Greene zudem, politische Entwicklungen wie in Vietnam oder in Afrika zu verdeutlichen oder sogar vorherzusagen (was natürlich kein künstlerisches Kriterium ist).


Seltsamerweise ist Graham Greene heute eher im Kino präsent als in den Buchläden. Viele seiner Romane wurden für die Leinwand adaptiert, etliche mit großem Erfolg. Und so skeptisch man auch Literaturverfilmungen gegenüber sein sollte, in einem Fall übertrifft die optische Version das Schriftwerk, wie Greene selbst freimütig bekannte: Er selbst habe dem Roman „Der dritte Mann“ über Penicillin-Verschiebung im zerstörten, in Sektoren aufgeteilten Wien ein unglaubwürdiges Happy End verpasst, weil die Leute in der Nachkriegszeit ohnehin zu viel Negatives erlebt hätten. Regisseur Carol Reed aber bestand zu Recht auf einem deprimierenden (und logischeren) Ausgang, was auf dem Wiener Zentralfriedhof zu einer der berühmtesten Kamera-Totalen der Filmgeschichte führte.
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Ambrose Bierce


Es mag seltsam anmuten, einen Mann, der in erster Linie der weird literature zugerechnet wird, sich also einen Ruf als Verfasser unheimlicher Geschichten erwarb, als Wegbereiter der angelsächsischen Prosa zu würdigen. Aber merkwürdig war so ziemlich alles an Ambrose Bierce, widersprüchlich seine Weltsicht und höchst mysteriös sein Ende. Auch sollte man nicht vergessen, dass Erzählungen des Grauens und der Phantastik schon immer Bestandteil der Weltliteratur waren, von der deutschen Schwarzen Romantik über die genialen Russen wie Puschkin und Turgenjew bis hin zu den wichtigsten Autoren der USA im 19. Jahrhundert.


Von E. A. Poe zur Moderne


Im östlichen Kernland der sich vor knapp 200 Jahren erst langsam in Richtung Westen vortastenden Vereinigten Staaten herrschten kaufmännisches Gewinnstreben und imperialer Pioniergeist vor, für Kunst und feingeistige Literatur blieb da wenig Raum. So verwundert es nicht, dass die Anregungen für die ersten Dichter und Schriftsteller der Neuen Welt aus Europa kamen, erstaunlich war indes der starke Einfluss der deutschen Romantik. Vor allem E.T.A. Hoffmann (zeitgenössischer Spott: „Gespenster-Hoffmann“) regte mit düsteren Werken wie „Die Elixiere des Teufels“ oder „Der Sandmann“, in denen Schauermotive mit tiefenpsychologischer Deutung und Gesellschaftskritik vermengt waren, den (hierzulande als Grusel-Autor unterschätzten) damals wichtigsten Dichter Nordamerikas, Edgar Allen Poe, oder den genialen Chronisten der religiösen Hysterie und des bigotten Puritanismus in der Frühzeit der einst englischen Kolonien, Nathaniel Hawthorne („Das scharlachrote Siegel“), an.


Wie aber konnte sich aus der nordamerikanischen Pionier-Romantik der Anfangszeit jene naturalistische und realistische Prosa entwickeln, die der US-Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen der vorderen Ränge weltweit sicherte? Vielleicht kann man Ambrose Bierce, den die Zeitgenossen wegen seines Sarkasmus auch Bitter Bierce nannten, als missing link, quasi als vernachlässigten Verbindungsmann zwischen den hypersensibel fabulierenden Phantasten wie E. A. Poe und den lakonisch knapp formulierenden Schriftstellern der sich abzeichnenden Moderne, repräsentiert etwa durch Ernest Hemingway oder John Dos Passos, bezeichnen.


Ein Leben in Extremen


Der pessimistische Grundzug im Werk von Ambrose Bierce verdankt sich wohl einer wenig gradlinigen, aber sicherlich an ernüchternden Erlebnissen reichen Biographie, die von kontradiktorischen Umständen geprägt wurde: So wuchs er als Farmersohn auf dem flachen Land von Ohio auf, konnte aber auf eine umfangreiche häusliche Bibliothek zurückgreifen und sich als Autodidakt früh zum Spezialisten für englische Sprache, speziell in amerikanischer Ausprägung, entwickeln. Obwohl der Vater, ein entschiedener Gegner der Sklaverei, wohl kein ganz tumber Bauer gewesen sein kann, lief Ambrose mit 15 Jahren von daheim weg.


Im Bürgerkrieg diente er als Scout der Nordstaaten-Armee, wurde mehrfach verwundet, floh nach einer Gefangennahme und erhielt Auszeichnungen für besondere Tapferkeit. Als Landvermesser nahm er 1866 an einer Expedition durch das Indianer-Territorium teil. Damit endete (vorerst) die abenteuerliche Periode seines Lebens.


Bierce zog an die Westküste, wurde Journalist beim San Francisco Examiner und stieg zum Hauptstadt-Korrespondenten in London, dann in Washington D.C. auf. Im Alter – seine Ehe war gescheitert, er hatte zwei Söhne verloren und litt unter Asthma sowie Alkoholproblemen – setzte er ein letztes Mal sein Leben aufs Spiel: Als 71-jähriger überquerte er 1913 in vollem Bewusstsein der Gefahr (Ein Zitat von ihm bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung guter Tod der altgriechischen Vokabel: "Ein Gringo in Mexiko sein - ah, das ist Euthanasie!") die Südgrenze der USA, begleitete als Reporter die Revolutionstruppen Pancho Villas – und verschwand spurlos. Carlos Fuentes hat in seinem großartigen Roman „Der alte Gringo“ über das gewaltsame Ende des Autors spekuliert, wobei er sich vermutlich auf eine Andeutung in dessen letzten Brief bezog, der zufolge Bierce mit der standrechtlichen Erschießung rechne.


Wenig kongruent oder sogar ähnlich zerrissen wie sein Lebensweg zeigen sich auch seine Haltungen den Mitmenschen und der Gesellschaft gegenüber. Viele Zeitgenossen hielten ihn für den „bösartigsten Menschen“ im ganzen Land, während Bekannte seine Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft hervorhoben. Die bürgerlichen Politiker, die er als Korrespondent zur Genüge kennengelernt hatte, hasste er inbrünstig, die Sozialisten mochte er aber auch nicht. Er galt als einer der hervorragendsten Kenner der angelsächsischen Literatur und war mit dem Kritiker-Papst Henry Mencken ziemlich eng befreundet.


Der größere Horror


Abgesehen von „Der Mönch und die Henkerstochter“, eine in den Alpen spielende Novelle in der ansonsten für ihn untypischen Kulisse und Sentimentalität der deutschen Romantik, umfasst das relativ schmale, aber umso intensivere literarische Werk von Ambrose Bierce fünf Sammlungen: „Geschichten aus dem Bürgerkrieg“, „Horrorgeschichten“, „Lügengeschichten“, „Phantastische Fabeln“ und „Das Wörterbuch des Teufels“. Vor allem die ersten beiden Kompendien begründeten den Ruhm des Autors, wobei die Kriegsstorys, die weitgehend ohne metaphysische Phänomene auskommen, von den meisten Lesern als erschreckender empfunden werden als die Gruselgeschichten, in denen sich tatsächlich oft Übernatürliches abspielt.


Versuche, Bierce zum Kriegsgegner und pazifistischen Schriftsteller umzudeuten, treffen den Kern seiner beinahe surrealen Bloßstellung jeglichen Heldentums und aller vorgeblichen Rationalität beim Blutvergießen nicht. Der Autor formulierte zum Leidwesen friedensbewegter Interpreten in den 1980er Jahren nirgendwo eine prinzipielle Ablehnung des Krieges, beschreibt aber dessen Absurdität und die Verheerungen, die durch ihn in der Psyche von Soldaten und zivilen Opfern angerichtet werden, mit einer Schärfe und analytischen Beobachtungsgabe, die Ihresgleichen in der modernen Literatur suchen. Ob ein Mann den feindlichen General, seinen Vater, tötet, ob wie in der berühmten, in vielen Anthologien veröffentlichten Erzählung „Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke“, ein Südstaaten-Spion scheinbar seiner Hinrichtung entgeht, aber in eine schattenhaft veränderte Hyperrealität gelangt, oder ein einsamer Wachposten in der Wildnis von der eigenen Phantasie und einer Spottdrossel genarrt wird – in lakonisch distanzierter Sprache steigert Bierce die unerträgliche Spannung bis zum tragischen Höhepunkt.


Aus dem Blickwinkel eines Kindes thematisiert die Geschichte „Chickamauga“ das morbide Geschehen nach einer der großen Schlachten des Bürgerkriegs und taucht sinnbildlich den Leser mit einer (sic!) bitteren, jedes Pathos verhöhnenden Verve in einen blutigen Wahnwitz, wie ich sie noch in keinem thematisch verwandten Werk gefunden habe. Mag der bekennende Zyniker Bierce auch kein erklärter Kriegsgegner gewesen sein, so hat er doch mit „Chicamauga“ eines der erschütterndsten Stücke der Antikriegsliteratur geschaffen.


Ein einsames Jenseits


Auch die unheimlichen Storys (O-Titel der Sammlung: „Can Such Things Be?“) gehen weit über konventionelle Bemühungen, dem Publikum wohlige Gruselmomente zu verschaffen, hinaus. Zwar gehören bei Bierce ein paar übersinnliche Phänomene und Figuren zum Repertoire, doch geprägt werden die überwiegend deprimierenden Erzählungen durch das Versagen, die Ängste und die Obsessionen der normalsterblichen Akteure. Diametral entgegengesetzt im Spektrum der Stimmungen sind der sarkastische Humor von „Der berühmte Gilson-Nachlass“, der den Henker eines Gold- und Pferderäubers dazu verpflichtet, die Unschuld seines Opfers zu beweisen, und die tieftraurige Erzählung „Die Straße im Mondlicht“, in der drei Menschen aufgrund einer unglücklichen Mixtur aus Schuld und Zufall ins Verhängnis stürzen und das Jenseits als ein Ort ohne Kommunikation, Verständnis und Hoffnung beschrieben wird.


Die „Fabeln“ vermitteln im Gegensatz zu altgriechischen oder französischen Vorgängern keinerlei Einsichten von erhebender Moral, sondern nur tiefe Einblicke in alle Spielarten der Gemeinheit, desgleichen die „Lügengeschichten“, etwa die durchaus realitätsnahe Farce „Die Presse bestechen“, die das intime Verhältnis zwischen Politik und wohlfeilem Journalismus karikiert, oder die brachial makabre Familienchronik „Mein Lieblingsmord“.


Von einmaliger satirischer Böswilligkeit aber zeigt sich Ambrose Bierce in seinem 1911 erstmals vollständig erschienenen „Des Teufels Wörterbuch“. Bevor ich mich in weitschweifigen Elogen ergehe, die dem Autor allenfalls ein geringschätziges Lächeln entlockt hätten, zitiere ich lieber den letzten Eintrag in diesem Kompendium angewandter Misanthropie:
Zyniker, der – Schuft, dessen mangelhafte Wahrnehmung Dinge sieht, wie sie sind, statt wie sie sein sollten. Hierher rührt die skythische Gepflogenheit, eines Zynikers Augen auszureißen, um seine Wahrnehmung zu verbessern.
04/2016
Dazu auch:
Carlos Fuentes im Archiv dieser Rubrik







Kazuo Ishiguro


(Das Porträt von Kazuo Ishiguro wurde erstmals 2012 in dieser Rubrik veröffentlicht und vorübergehend aus dem Archiv "zurückgeholt". Der englische Autor erhielt damals den Nobelpreis für Literatur 2017. Die beiden letzten Romane "Der begrabene Riese" sowie "Klara und die Sonne" konnten damals nicht berücksichtigt werden, da sie erst zwei Jahre später erschienen.)


Es ist schwer zu begreifen, warum der japanisch-britische Autor Kazuo Ishiguro in aller Welt hohe Auflagen erreicht und bedeutende Literaturpreise gewinnt, warum seine Romane erfolgreich verfilmt werden und doch in den Buchläden hierzulande nach kurzer Zeit auf den Ramschborden für „Mängelexemplare“ landen. Ist es der unprätentiöse, ruhige Stil abseits gängiger Effekthascherei oder werden die deutschen Leser durch seine Art, die Ich-Erzähler erst nach einer Odyssee durch falsche Vorstellungen und bittere Realität zu einer Teilerkenntnis und der Frage nach der persönlichen Verantwortung zu führen, überfordert?


Es scheint, als seien in Ishiguros Werk die Charakteristika zweier Kulturen eingeflossen: das akribische japanische Gefühl für Form und Dezenz und der britische Hang zu lakonischer, vordergründig kühler Prosa. Die Protagonisten seiner Romane ahnen nichts vom Fortgang der Handlung, sie werden von den Entwicklungen überrascht wie der Leser, nur dass dieser auf seinem distanzierten Logenplatz bald die Zusammenhänge, die Fehler und Versäumnisse genauer erkennt als die Akteure, deren Passivität und Ignoranz ihm manchmal den Wunsch, eingreifen und erklären zu können, aufdrängen. Ishiguro ist ein stiller Erzähler, emotionale Ausbrüche unterbleiben, seine Hauptpersonen begreifen häufig die Beweggründe der anderen nicht, scheinen sich wehrlos ihrem Schicksal oder ihrem einer Manie gleichenden Pflichtgefühl zu ergeben.


Die ersten beiden Romane des 1954 in Japan geborenen Autors, der im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern nach London übersiedelte, „Der Maler der fließenden Welt“ und „Damals in Nagasaki“ spielen in der Umgebung seiner frühen Kindheit und thematisieren die traumatischen Verwüstungen in einer geschlagenen Nation. Aber bereits früh wirft Ishiguro die Frage nach Schuld und Selbsttäuschung auf, die sein ganzes Werk durchziehen wird. So flüchtet sich ein einflussreicher Künstler, der dem militaristischen Tenno-Regime loyal als feinsinniges Feigenblatt gedient hat, nach dem verlorenen Krieg vor Anschuldigungen ehemaliger Schüler und eigenem Schuldbewusstsein in banale Rechtfertigungsmodelle– die Ähnlichkeiten mit dem Verhalten deutscher Schauspieler oder Schriftsteller nach dem Untergang der Nazi-Diktatur sind nicht zufällig.


Seinen wohl immer noch berühmtesten Roman „Was vom Tage übrigblieb“, für den er den Booker-Preis, die wichtigste britische Auszeichnung für Literaten, erhielt und der mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen verfilmt wurde, schrieb Ishiguro 1989. Der Butler Stevens wird von seinem Dienstherrn mit dessen Wagen auf eine „Vergnügungsreise“ durch südenglische Landschaften geschickt. Auf der Fahrt durch die Provinz spielt sich sein Leben noch einmal im Kopf ab, doch er erinnert sich nur in anekdotischer Form an die wichtigen Szenen und Umstände, er reflektiert sie nicht. Der Leser wird zum Zeugen eines nur durch Konvention, Etikette und einer jedes eigene Bedürfnis leugnenden Contenance bestimmten Daseins. Stevens opfert seinem Beruf und der Vorstellung von der ihm zugewiesenen Rolle jegliche individuelle Regung. Er ist in erster Linie Butler, nicht Mensch. So verdrängt er, dass sein früherer Arbeitgeber aus dem Hochadel mit den Nazis paktierte, so entschuldigt er die miserable Behandlung seines Vaters, wie er einst Butler, durch die noble Gesellschaft, und so verliert er die einzige Liebe seines Lebens. Erst jetzt, in vorgerücktem Alter, weht ihn eine Ahnung von Realität an, aber es wird zu spät zum Lernen sein.


„Die Ungetrösteten“ ist ein kafkaeskes Gemälde, in dem sich zeitliche und räumliche Dimensionen ständig verschieben. Ein gefeierter Pianist kehrt in seine Heimatstadt zurück, doch das Verhalten der Menschen dort gibt ihm ein Rätsel nach dem anderen auf. Nur langsam wird klar, dass der berühmte Künstler einst Menschen verletzt oder im Stich gelassen hat, dass er den eigenen „Leichen im Keller“ nicht entkommen kann. „Als wir Waisen waren“ ist ein skurriler Plot vor dem Hintergrund der japanischen Invasion Chinas. Der englische Privatdetektiv Christopher Banks, mit ähnlichem kriminalistischen Scharfsinn begabt wie einst Sherlock Holmes, ansonsten aber reichlich weltfremd, gerät auf der Suche nach seinen verschwundenen Eltern, die offenbar in dunkle Geschäfte verwickelt waren, in das von Okkupationstruppen belagerte Shanghai. Der Verfolgung seines Ziels opfert er sämtliche menschlichen Regungen: Liebesgefühle, Skrupel und Empathie. Von ihm im Stich gelassene Menschen säumen den Weg seiner Recherche, deren Ergebnis den fanatischen Aufwand nicht rechtfertigt, wie sich zeigen wird.


Ishiguros bislang letzter Roman „Alles, was wir geben mussten“ zeichnet das erschütternde Bild einer Parallelwelt im England der 1970-er Jahre. Für diese Zeit scheinbar typische Jugendliche leben in einem ländlichen Internat, unterhalten sich über ihre Zukunftsträume, hören Musik oder beginnen erste Flirts – genau wie man sich die damaligen Teen-Existenzen vorstellt. Doch allmählich merkt der Leser, dass etwas nicht stimmt, dass hinter der idyllischen Szenerie eine beunruhigende Wirklichkeit lauert. Bei den naiven jungen Menschen handelt es sich um Klone, um menschliche Ersatzteillager. Je mehr sie sich der Wahrheit bewusst werden, und je intensiver der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wird, desto auswegloser stellt sich ihre Zukunft dar. Trotz des spärlich ausgeleuchteten utopischen Ansatzes ist der Roman nicht ins SF-Genre einzuordnen. Man könnte ihn als Warnung lesen, wie weit eine auf Funktionalität, Erfolg und materielle Leistung fixierte Gesellschaft zu gehen bereit ist, um ihren Eliten ein problemfreies, normiertes Umfeld zu schaffen. Nebenher werden wohl auch die Möglichkeiten und vor allem Grenzen der Reproduktionsmedizin einer kritischen Betrachtung unterzogen.


Kazuo Ishiguro ist von der Thematik und der feinen, differenzierten Sprache, die das Elend erst nach und nach einsickern lässt, ein behutsamer Schriftsteller, dessen Bücher oft melancholische Charaktere und tieftraurige Begebenheiten zum Sujet haben. In seine Erzählungssammlung „Bei Anbruch der Nacht“ (der schönere Originaltitel: Nocturnes – Five Stories of Music and Nightfall) bringt er ein, zwei Slapstick-Momente ein, die nicht so ganz zu seinem gedämpften Tenor passen wollen. Aber auch diese Geschichten haben – mit speziellen Songs oder Musikererlebnissen als Bezugspunkten – das Scheitern menschlicher Beziehungen aufgrund von Sprachlosigkeit, Angst oder Unverständnis zum Thema.


In der zeitgenössischen angelsächsischen Literatur ist Kazuo Ishiguro eine leise Stimme. Liest man sein Werk aber mit dem Respekt, den er seinen Figuren zollt, ist sie eine der durchdringendsten und nachdenklichsten in unserer Zeit.






Georges Simenon


Er schrieb wie ein Besessener: Krimis, Erzählungen, Artikel, Groschenromane, und er fabrizierte zeitweise Literatur von einer Qualität, die selbst berühmteste Kollegen neidlos anerkannten: Der 1903 in Lüttich geborene Georges Simenon, einer der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts, war ein Ruheloser, im Leben wie im Schaffen, ein Autodidakt, dessen Werdegang aufzeigt, was aus einem Trivial-Schriftsteller so alles werden kann.


Ein Getriebener als Beobachter


Nicht das unstete, wenn auch nicht unbedingt sensationelle Leben, das Simenon führte, auch nicht die ungeheure Produktivität und der weltweite Erfolg als Romancier, Storyteller und Journalist oder das Bild, das er mit einer gewissen Hybris von sich selbst verbreitete, begründeten den literarischen Ruf des Belgiers, es war vielmehr die konsequente Entwicklung vom Schundschreiber zum genauen Beobachter des menschlichen Mikrokosmos mit all seinen Auswüchsen, Krankheitssymptomen und Verfehlungen, es war die zurückhaltende Beschreibung, mit der er als Chronist der individuellen Niederlagen Verständnis und Empathie beim Leser weckte, ohne irgendwelche Erklärungsversuche zu unternehmen. Und es soll hier auch nicht um die 75 Kriminalromane mit dem skeptischen, in sich ruhenden Pariser Kommissar als Titelfigur gehen, sondern vielmehr um die romans durs (die harten Romane)wie Simenon selbst sie nannte, um die Non-Maigrets, Dramen, in denen Zufälle, Verbrechen und Planungen im Grund zweitrangig sind angesichts der Selbstzerfleischung, der Qualen von Tätern und Opfern gleichermaßen.


Simenon startete nicht gerade wie ein Nobelpreis-Anwärter: Unter Pseudonym schrieb er mehr als 1000 Kurzgeschichten und fast 200 Groschenromane, ehe er Ende der 1920er Jahre mit den ersten Maigret-Bänden zu seinem kargen Stil und der atmosphärisch dichten Beschreibung des Pariser Milieus fand. Auch als Journalist fiel er zunächst eher durch einige antisemitische Beiträge für ein erzkatholisches Blatt auf, von denen er sich später distanzierte. Gerade jüdische Leser hielten diese Reue für glaubwürdig, zeichnete er doch in mehreren Büchern sehr differenzierte und einfühlsame Porträts von Angehörigen ihrer Glaubensgemeinschaft. Zunächst war jedenfalls noch nicht abzusehen, dass er später auch einige Glanzlichter als Reporter und Interviewer setzen sollte, etwa als er in Istanbul ein intensives Gespräch mit dem aus Stalins Sowjetstaat geflüchteten Revolutionär Trotzki führte.

 


Mit dem durch die Maigret-Romane begründeten Ruhm mochte sich Simenon nicht zufriedengeben, er hatte „ernsthafte“ Literatur im Blick. Und trotz aller Unwägbarkeiten, das Liebesleben und die Ansässigkeit betreffend, ging er in seinem restlichen Leben dieses Vorhaben mit geradezu generalstabsmäßiger Präzision an. Ab seinem dreißigsten Geburtstag wolle er richtige Romane schreiben, hatte er etliche Jahre zuvor angekündigt, und schon mit neunundzwanzig begann er damit.


Von der Massenware zum modernen Roman


Während er seinen Wohnsitz insgesamt 33 Mal wechselte, weder in Belgien, Frankreich noch in Kanada heimisch werden konnte, die USA nicht zuletzt wegen der Kommunistenhatz in der McCarthy-Ära verließ und erst im Alter sesshaft in der Schweiz wurde, wo er 1989 starb, während seine Ehen sich bisweilen zu menages à trois entwickelten und er prahlte, mit mehr als tausend Frauen geschlafen zu haben, ruhte der Autor der romans durs bei der Arbeit in sich selbst, entwickelte die Leidensgeschichten seiner Hauptfiguren mit viel Geduld und ließ diese Geängstigten und Besessenen meist in einem Sog ungünstiger Umstände, einer Zwangsläufigkeit des Unglücks scheitern, resignieren oder sogar physisch untergehen. Man mag Simenon einen Pessimisten nennen, doch es könnte auch sein, dass er die comedie humaine von Balzac, der die oft tragischen Geschicke seiner Helden dazu nutzte, die französische Gesellschaft und die Finanzwelt zu entlarven, mit der Tragödie der im Gefängnis der eigenen Psyche Sitzenden, der an den Mauern kleinbürgerlicher Konvention Verzweifelnden, konterkarieren wollte.


Was Georges Simenon in fast hundert Romanen schuf, war moderne Literatur, beschränkt auf das Wesentliche, ohne auktoriale Kommentierung und ohne Manierismen. Schon früh hatte ihm die berühmte Autorin und Redakteurin Colette in Paris geraten, auf alles „Literarische“ zu verzichten, und so entstand unprätentiöse, konzentrierte Prosa, die genau wegen ihrer (scheinbaren) Kunstlosigkeit den Verstand anspricht und manchmal sogar zu Herzen geht. Eine Reihe von 50 dieser harten Romane hat der Diogenes-Verlag in deutscher Sprache veröffentlicht, allerdings sind sie im Augenblick fast alle vergriffen.

      

Die Hölle in uns


Auch in den „Non-Maigrets“ geht es häufig um ein Verbrechen, die dazu führenden Umstände oder die Ruhelosigkeit danach, dennoch sind diese Romane keine Krimis. Man kennt den Täter, ahnt seine Entlarvung und die letztendliche Jagd auf ihn im Voraus. Das eigentliche Sujet Simenons sind die Fragen, wie und wodurch ein Mensch zum Delikt oder Versagen getrieben wird und wann die Normalität eines ereignislosen Lebens durch das verstörende Erleben eines Bruchs in der (angenommenen) Wirklichkeit verloren geht. Der Autor wollte nach eigener Aussage „den nackten Menschen“ hinter allen Masken zeigen.

  

Simenons Mörder und Totschläger sind meist keine Gangster oder Berufskiller, sondern kleine Angestellte, Bauern, Ladenbesitzer oder mittelständische Fabrikherren, und zu denen, die sich aufgrund einer Obsession oder einer Demütigung, aus Eifersucht oder Einsamkeit selbst zugrunderichten, gehören Bürgermeister, Ärzte, Varieté-Künstler, junge Frauen, in der Mehrzahl Menschen, die ihre Position oder wenigstens ihre Rolle in der Gesellschaft gefunden zu haben scheinen, einigermaßen anerkannt in ihrem Umfeld sind, und doch bis zum Eintritt der Katastrophe im Stillen leiden. Und wenn einmal professionelle Ganoven als Hauptakteure auftreten, dann handelt es sich um kleine Gauner, denen die Tat eine Nummer zu groß geraten ist, die bald durch Angst und Ungeschicklichkeit alle Verdächte auf sich ziehen.


Simenon interpretiert nicht, er berichtet nur präzise und äußerst sparsam. Das eigene Nomadendasein kam offenbar seinem scharfen Blick auf die verschiedenen Städte und Landschaften zugute, deren klimatische Charakteristiken und Bewohner mit ihren lokalen Eigenheiten, vom grauen Regen des Nordens bis zur grellen Hitze der Mittelmeerküste, von der Sturheit oder der Perfidie der Einheimischen bis zur Pedanterie der Provinz, die Gemütslage seiner Protagonisten prägen oder sie manchmal bedrohlich einfärben. Ob das Geschehen in den Marschen Flanderns oder auf dem flachen Land der Normandie angesiedelt ist, im diffusen Moloch Paris oder im provinziellen La Rochelle, ja selbst im beschaulichen New England der amerikanischen Ostküste – mit wenigen Worten und spärlichen Beschreibungen skizziert Simenon die Handlungsorte und die dort vorherrschenden Stimmungen so anschaulich und überzeugend, als habe er nie woanders gelebt. Am Rande festzuhalten bleibt nur, dass es in seinen Romanen ziemlich häufig regnet.


Einige der Romane („Die Marie vom Hafen“, „Tante Jeanne“) steuern sogar auf so etwas Ähnliches wie ein Happy End zu, wenige spielen in exotischen Ländern, wobei „Tropenkoller“ von Simenon, der ansonsten kaum Politik oder offene Systemkritik in die Handlungen einfließen ließ, zu einer Abrechnung mit der französischen Kolonialgesellschaft genutzt wurde. Ansonsten bleiben die Protagonisten in ihrer inneren Hölle gefangen, wie sehr sie sich auch danach sehnen, ihr zu entkommen. Es sind psychologische Romane, in denen nicht psychologisiert wird. Das stellenweise absurde, oft zwanghafte Verhalten der Figuren, ihre Abhängigkeit von und ihre Furcht vor einer mitleidlosen Umgebung treiben sie in Krisen, deren existenzielle Bedrohlichkeit sich der Leser selbst herleiten und erklären muss. Neben Gelegenheitsmonstern („Die Phantome des Hutmachers“), Zufallsmördern („Der Mann, der den Zügen nachsah“) und Menschen, die sich plötzlich ihres verfehlten Lebens bewusst werden („Die Ferien des Monsieur Hire“), schuf Simenon auch anrührende Bilder von „Titelhelden“, die unschuldig in den Malstrom des öffentlichen Kleinstadtklatsches geraten oder mit der schrecklichen Demontage ihres gleichförmigen Lebens fertigwerden müssen ("Der Buchhändler von Archangelsk").


Stilistisch wurde Georges Simenon von seinen russischen Lieblingsautoren (allen voran Gogol), deren bisweilen leicht klaustrophobische Atmosphäre und psychologisierende Menschenzeichnung er für eine modernere Welt mit "neuen" Obsessionen modifizierte, und dem englischen Meister des epischen Understatements, Joseph Conrad, angeregt. Drei Jahrzehnte lang arbeitete Simenon an den romans durs, wobei er ab 1942 zwischendurch „zur Erholung“ erneut Maigret-Bände schrieb.

                

Der Beste von allen?


Georges Simenon zählt zu den meistverlegten Autoren aller Zeiten, seine Romane und Erzählungen wurden in die wichtigsten Weltsprachen übersetzt, etliche wurden verfilmt. Dann erwartete er 1947 den Literatur-Nobelpreis für sich, doch das Komitee verlieh die Auszeichnung an den Franzosen André Gide, einen akribischen Stilisten, der bis heute aber eher als feuilletonistischer homme de lettres denn als richtungsweisender Schriftsteller wahrgenommen wird. Simenon sollte den Nobelpreis nie erhalten, weshalb er aus gekränkter Eitelkeit die Juroren als „diese Idioten“ bezeichnete.


Während sich die Kritiker in seiner Bewertung uneins waren, hatten sich große Autoren der Weltliteratur und bedeutende Theoretiker längst entschieden: William Faulkner bekannte, dass er vor allem die Kriminalromane gerne lese und sich an Ĉechov erinnert fühle, Ernest Hemingway lobte „die wunderbaren Bücher von Simenon“, Kurt Tucholsky bescheinigte dem belgischen Weltbürger „die große und so seltene Gabe des epischen Erzählens, ohne etwas zu erzählen“, Thornton Wilder attestierte Prosatalent „bis in die Fingerspitzen“ und Walter Benjamin erklärte, er lese „jeden neuen Roman“.


Der höchst kollegiale, aber stets ein wenig überschwängliche Kolumbianer Gabriel García Márquez endlich hielt die ultimative Eloge: „Georges Simenon war der wichtigste Schriftsteller unseres Jahrhunderts.“ Auch wenn es vielleicht eine Nummer kleiner auch gegangen wäre – um die universellen wie aktuellen seelischen Nöte des Menschen und die geistige Enge der Gesellschaft vor zwei, drei Generationen zu verstehen, empfiehlt es sich, Simenon zu lesen. Übrigens auch, weil er zeitlos spannend ist.


05/2017 

                    

   





António Lobo Antunes


Er ist in seiner Sprachgewalt, in der Charakterisierung urbaner Milieus und gesellschaftlicher Gruppen (ohne auktoriales Allwissen sowie moralische Wertung) und der Verdichtung scheinbar belangloser Befindlichkeiten, Sünden der Vergangenheit und Vorurteile zu ausweglosen Dramen einer der beeindruckendsten und beunruhigendsten Schriftsteller der Gegenwart. Die Romane des Portugiesen António Lobo Antunes zu lesen, ist nicht unbedingt leicht, keine bequeme Lektüre für die U-Bahn (auch wenn sie den Leser rasch in ihren Bann zieht und sensibilisiert), noch schwieriger aber ist es, das vielbändige Werk nach Inhalt, Stil oder Aussage einzuordnen, die Brisanz, Traurigkeit und Schönheit seiner Erzählkunst zu schildern. Man kann und muss sich Antunes auf verschiedenen Wegen nähern. Einige davon seien im Folgenden dargestellt, dennoch kann dieses Porträt aufgrund der Vielschichtigkeit des Autors nur Momente und Motive herausgreifen, nicht aber die ganze Wirkungsweise beschreiben.

 

Portugals kurzer Aufstieg und langer Niedergang:

 

Es ist ungewöhnlich, dass in einer rechten Diktatur die Armee, normalerweise das Hätschelkind der Macht, rebelliert und versucht, eine sozialistische Volksdemokratie zu etablieren. Die in den langen Kolonialkriegen von Angola, Mozambique und Guinea-Bissau erschöpften portugiesischen Truppen, angeführt von linken Offizieren, begannen 1974 die Nelkenrevolution, die Lissabon für eine kurze Zeit zum Weltzentrum gesellschaftlicher Utopien machen sollte. Die Großgrundbesitzer wurden enteignet, die Tagelöhner im bitterarmen Alentejo aus beinahe feudalistischen Abhängigkeitsverhältnissen befreit, die Pide-Agenten und Folterer der Diktatur festgenommen.

 

Wie so oft konnten sich die Akteure, unter ihnen Trotzkisten, Anarchisten und Volksfront-Anhänger, nicht auf ein perspektivisches Vorgehen einigen und mussten bald den Sozialdemokraten das Terrain überlassen, die wiederum den Boden für die Konservativen und die Wiederkehr der einstigen Herren des Landes ebneten. Portugals Aufbruch endete in der Restauration, die alten Besitzverhältnisse wurden weitgehend wiederhergestellt.

 

In dieser turbulenten Zeit spielen einige Romane von Lobo Antunes, der allerdings nie ein leuchtendes Panorama der kurzen Epoche malen wollte wie sein mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Kollege José Saramago, sondern sich strikt an die individuellen Wahrnehmungen, Vorurteile und Phobien der Personen hält, die – meist sehr egoistisch – handeln, zu handeln versuchen oder denen mitgespielt wird, weil sie naiv oder zu lethargisch sind, um sich zu wehren.

 

Am Beispiel von Neureichen, die aus Kommunistenfurcht nach Spanien flüchten wollen („Reigen der Verdammten“), Nutznießern der alten Diktatur und ihren orientierungslosen Nachfahren („Das Handbuch der Inquisitoren“) oder Ordnungskräften, die bei ihrer Terroristenhatz dem überwunden geglaubten System wieder sehr nahe kommen („Die Leidenschaften der Seele“) charakterisiert Antunes die Zerrissenheit des Landes, wobei er in jähen Schnitten, unterbrochenen Sätzen und Assoziationen auch formal das einer gescheiterten Hoffnung folgende Chaos in aller Konsequenz darstellt.

 

Das Vermächtnis der Kolonialkriege:

 

Lobo Antunes entstammte einer jener großbürgerlichen Familiendynastien, die er später literarisch in ihrer ganzen Gier und Schäbigkeit bloßstellte. Er studierte Medizin, wurde Psychiater und saß als Mitglied der Kommunistischen Partei unter Salazar einige Zeit im Gefängnis. Zwischen 1971 und 1973 arbeitete er als Militärarzt in Angola, wo er Kontakte zu Vordenkern der späteren Nelkenrevolution unterhielt.

 

 Die Gräuel des Kolonialkriegs, die Verbrechen der Besatzungstruppen und der aus Lissabon entsandten Geheimagenten, aber auch die mörderischen (von Südafrikas Apartheid-Regime und den USA befeuerten) Machtkämpfe nach dem Abzug der Portugiesen und das elende Schicksal der an den Küsten des einstig mächtigen Mutterlandes angeschwemmten Siedler und Entwurzelten fließen in Romane wie „Der Judaskuss“, „Guten Abend ihr Dinge hier unten“ oder „Rückkehr der Karavellen“ ein. Portugal, einst als Imperium der Seefahrer und Entdecker zu Unterjochung fremder Völker aufgebrochen, ist auf sich selbst zurückgeworfen: ein armseliges kleines Land, dessen Perspektivlosigkeit und Unfähigkeit zu Empathie und Solidarität sich in den zerrissenen Familien und den Getriebenen der Großstadtslums widerspiegeln.


Hölle der Psychiatrie


Als wären die Kriegserfahrungen in Angola nicht schon erschütternd genug gewesen, erlebte Lobo Antunes nach der Rückkehr und dem Arbeitsantritt in einem Krankenhaus eine nach eigenem Bekunden noch schlimmere Hölle, die der Psychiatrie. Schon in seinem ersten Roman „Elefantengedächtnis“ zeichnet er das düstere Bild einer Bewahranstalt für Menschen, denen jede Menschenwürde und Individualität von Therapeuten der verschiedensten Schulen genommen wird.

 

Auch in „Einblick in die Hölle“ karikiert der Autor, der noch bis 1985 als Chefarzt in einer Lissaboner Nervenklinik arbeitete, die in sich geschlossenen Systeme wie Psychoanalyse und Verhaltenstherapie als nutzlose Dogmen-Labyrinthe, in denen der Patient ohne Hoffnung auf Heilung oder wenigstens Verständnis wie ein Versuchskaninchen umherirrt respektive herumgestoßen wird.

 

Es ist vielleicht die Beschäftigung des Psychiaters mit der seelischen Verfassung seiner Patienten und der Interaktion zwischen Affekt, kognitiver Erfassung und von Aversionen geprägtem Gedächtnis, die den Schriftsteller zu seinem einzigartig konzipierten inneren Monolog aus Gedankenfetzen, manisch wirkenden Wiederholungen peinlicher oder berührender Sequenzen und traurig-humoristischer Slapstick-Szenen, in den unvermittelt äußere Dinge eingreifen, animiert hat.

  

Das Elend der Familien:

 

Die Ehen, Liebesbeziehungen und Familien in Antunes` Romanen scheitern, weil das Verständnis zwischen den Menschen fehlt, die Zuneigung entweder zu intensiv für den Verstand („Elefantengedächtnis“) oder deprimierend einseitig ist („Die natürliche Ordnung der Dinge“), weil sich Kinder lebenslang zurückgesetzt fühlen und sich peinliche Erlebnisse in hysterischer Verbissenheit lebenslang ins Gedächtnis zurückholen („Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht“). Glück, Bestätigung oder zumindest Zufriedenheit auf niedrigem Niveau bleiben den Hauptpersonen fremd, so wie derartig positive Stimmungslagen in ihrer Umgebung nicht anzutreffen sind, nicht in ihrem Viertel und erst recht nicht im heruntergekommenen Portugal.

 

Zu den aufwühlendsten – und das heißt bei Antunes: bittersten – Werken zählt „Mein Name ist Legion“, die Geschichte einer in den Vorstädten marodierenden Bande von schwarzen und farbigen Kindern, die sich auf ihren Raubzügen brutal an der rassistischen, sie völlig ausgrenzenden Gesellschaft rächen. Auf der anderen Seite der sozialen Barriere steht ein resignierter Polizeiinspektor, der nicht über das Scheitern seiner Ehe und die Entfremdung von seiner Tochter hinwegkommt, und zwischen die Fronten gerät eine alternde Hure, die von einem der minderjährigen Gangster keusch als Idol und Mutterersatz verehrt wird. Als das System am Ende ohne Rücksicht auf Verluste zurückschlägt, richtet es kollaterale Personenschäden an, exekutiert Menschen mit perfider Konsequenz, kürzt die Suche nach einer humanen Perspektive auf seine Weise ab.

 

Lobo Antunes macht Lissabons Viertel wie Benfica oder Vorstädte wie Estoril  zu den Schauplätzen familiärer Tragödien, zur Bühne bürgerlicher Scheinexistenzen, emotionalen wie sozialen Scheiterns sich selbst belügender Individuen. Dass seine Stoffe den Leser nicht niederschmettern, nicht in völliger Hoffnungslosigkeit zurücklassen, sondern eher wie Appelle an das Bewusstsein von hohem ästhetischem Wert  empfunden werden, ist der Sprachgewalt und einem ausgefeilten, die Rezeptionsgewohnheiten sprengenden Stil, dessen Intensität derzeit wohl kaum ein Autor weltweit erreicht, geschuldet.

  

Der Hohn der Möbel:

 

Obwohl Antunes sich auf scheinbar übersichtliche Milieus und in ihren Absichten leicht durchschaubare Personen beschränkt, sprengt er die Erwartungshaltung des Lesers, indem er ihn in die Unendlichkeit des Mikrokosmus menschlichen Denkens und Wollens einführt. Der innere Monolog seiner Protagonisten ist kein wohlgeformtes, logisch abgeschlossenes Gedankengebilde, es ist eine Kette sich kreuzender und widersprechender Assoziationen, unvergessener Demütigungen und abgehakter Hoffnungen, die nie ein Ende findet.

 

Der Schriftsteller ist der Chronist der Einsamen, die ihre Biografien memorieren und sich dabei in Lappalien und absurde Assoziationen verstricken, bis sie ihr Leben, ihre Erfahrungen zu einer einzigartigen Kompilation unheilbarer Enttäuschung verfremdet haben: Ich-Erzähler im Gefängnis obsessiver Vorstellungen und kleinlicher Abrechnungen. Selbst das Verhalten von Tieren, vor allem von widerspenstigen Vögeln, oder das Knarren der Möbel gelten ihnen als höhnischer oder mahnender Kommentar unbelebter Gegenstände zu ihrem ausweglosen Zustand.

 

Die Beschäftigung mit dem verzweifelten und geschlagenen Ich korrespondiert ständig mit einer ähnlich trostlosen Umgebung in Haus und Familie, und auch das weitere Umfeld, die Gesellschaft, bietet keine Fluchtmöglichkeit. Der mittlerweile 73jährige Lobo Antunes, vielfach ausgezeichnet, allerdings bislang vom Nobelpreis-Komitee verschont, hätte seine an der Gegenwart und der Vergangenheit scheiternden Figuren auch an anderen Orten ansiedeln können, aber Portugal ist sicherlich eine adäquate Gegend für sie; und ihre Schicksale, wiewohl jeweils in eine klar umrissene geschichtliche Epoche gesetzt, bleiben aufgrund der Grenzenlosigkeit individueller Empfindungen zeitlos.

 

09/2015   

 


 


  

Carlos Fuentes

  

Vor einigen Monaten starb der Mexikaner Carlos Fuentes, einer der letzten kosmopolitisch gebildeten Autoren, im Alter von 83 Jahren. Wozu die Betonung seines enormen Wissenshorizonts, der neben literarischen Elementen auch historische, anthropologische und soziologische Kenntnisse beinhaltete, wenn doch für die Schriftstellerei im Normalfall ein Gefühl für Sprache, Stil und einen guten Plot ausreicht? Nun, soll der Stoff einer Fiktion die engen Grenzen der eigenen Befindlichkeit überschreiten, ist es nie schlecht, wenn der Urheber eine Ahnung von der Welt hat, in der er lebt und in der er sich engagiert.

 

Die Nachrufe in den meisten Feuilletons reduzierten Fuentes auf einen Chronisten der mexikanischen Geschichte mit den Nachwirkungen des Kolonialismus, den Folgen einer überaus langen und letztendlich gescheiterten Revolution, der allgegenwärtigen Korruption sowie der ständigen Auseinandersetzung mit den USA north of the border. Tatsächlich spielen all diese Faktoren eine wichtige Rolle im Werk von Fuentes, doch lässt es sich nicht von einer geografischen Region (wie umfangreich auch immer sie sein mag) und ihren spezifischen Problemstellungen einengen. Fuentes, der als Diplomatensohn Kindheit und Jugend weitgehend in anderen lateinamerikanischen Ländern verbrachte, der an einer US-Uni lehrte und mehrere Jahre als Mexikos Botschafter in Paris amtierte, ehe er aus Protest gegen die eigene Regierung zurücktrat, der Drehbücher schrieb und u. a. mit Buñuel zusammenarbeitete, brachte seine geopolitischen und interkulturellen Erfahrungen in die Literatur ein.

 

So zeichnet er etwa in „La Campaña“ das Bild Lateinamerikas im frühen 19. Jahrhunderts, als gebildete Kreolen die Ideen der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution für ihren Befreiungskampf  instrumentalisierten, der zwar zum Sieg über das spanische Imperium, aber letztlich nicht zur ökonomischen und sozialen Selbstbestimmung der Menschen führte. In „Hautwechsel“ bildet die Kleinstadt Cholula, die einst beinahe zum Grab für Cortés` Konquistadoren geworden wäre, die gespenstische Szenerie für eine späte Abrechnung: Die Schatten der Nazi-Konzentrationslager holen die Protagonisten in subtropischer Umgebung ein. Über „Terra Nostra“, nicht nur des Umfangs wegen (mehr als 1100 Seiten) sein Opus Magnum, pflegten mexikanische Studenten zu spotten, Fuentes habe etliche Zeit studieren müssen, um es zu schreiben, und seine Leser müssten nun sechs Semester studieren, um es zu verstehen. So schlimm ist es nun wirklich nicht, es lässt sich im Gegenteil sogar spannend an, wenn man die erstaunlichsten Interaktionen handelnder Personen auf verschiedenen Zeitebenen akzeptiert. „Entdeckung“ und Inbesitznahme Amerikas werden vor dem Hintergrund der Habsburger Herrschaft in Madrid, deren Macht auf dem Höhepunkt ist, nur um – begünstigt durch imperialen Wahnsinn und Widerstand der Städte sowie des spanischen Flanderns – wieder zu erodieren, beschrieben. Gemälde von Caravaggio oder Bosch sprechen zu ihren Betrachtern, Don Quijote zieht durch die Handlung, in einem antiken Flashback präsentiert sich der römische Kaiser Tiberius als „Vorbild“ an Dekadenz und Ignoranz und zum Finale treffen sich einige der Hauptpersonen in einem zukünftigen Paris: ein gewaltiges, Kontinente und Jahrhunderte vereinnahmendes Panorama.

 

 

In zwei Romanen wird die gut zehn Jahre dauernde Mexikanische Revolution, der Aufstand der Indianer- und Bauernführer Zapata und Villa gegen die Generäle Díaz, Huerta und später Obregon, vor allem aber gegen Oligarchie und Großgrundbesitz, thematisiert: „Nichts als das Leben“ ist die geistige Zeitreise des sterbenden Magnaten Artemio Cruz durch sein Leben bis zurück in seine Kindheit, markiert von den Etappen seines durch Verrat erkauften Erfolges. „Der alte Gringo“, übrigens mit Gregory Peck und Jane Fonda verfilmt, ist eine wunderschöne, traurige Hommage an den US-Schriftsteller Ambrose Bierce, dem aufgrund seiner desillusionierenden Bürgerkriegserzählungen und des zynischen „Wörterbuch des Teufels“ der Beiname „The Bitter Bierce“ zugeeignet wurde. Als 70-jähriger überquerte er 1913 die Grenze zwischen Texas und dem mexikanischen Bundesstaat Chihuahua, der von Pancho Villas Reitertruppen dominiert wurde, um über die Revolution zu berichten. Wenig später verlor sich jede Spur von ihm. Carlos Fuentes rekonstruiert das mögliche Ende des verschwundenen Gringo-Autors und wirft dabei ein Schlaglicht auf die schwer zu begreifenden Zusammenhänge einer Revolution, die als eine der blutigsten aller Zeiten in die Geschichte eingehen sollte.

  

Fuentes wilderte auch in anderen Genres: Mit „Das Haupt der Hydra“ schrieb er einen eher zähen Polit-Krimi, während seine Ausflüge ins Reich der weird literature, die Erzählungen „Aura“, „Chac Mool“ oder die Sammlung „Unheimliche Gesellschaft“ Meisterwerke psychologischer Beobachtung sind: Die Realität wird als schöner Schein entlarvt, das Grauen lauert im (Unter-)Bewusstsein der handelnden (oder manipulierten) Personen. In „Verbranntes Wasser“ und einem seiner bekanntesten Romane, „Landschaft im klaren Licht“, setzt er Mexico City, den verfallenden Vierteln der Metropole und ihrer zerrissenen Bürgerschaft ein Denkmal, das an ein Trojanisches Pferd in der von Elend, Verbrechen und Ignoranz belagerten Stadt erinnert. Zu den interessantesten Spätwerken zählt der 2006 erschienene Erzählungszyklus „Alle glücklichen Familien“,  eine teilweise poetische Abrechnung mit der Scheinheiligkeit in der Ehe, der Chancenlosigkeit auf der falschen Seite der Gesellschaft, mit dem latenten oder provokativen Machismo im Vaterland männlicher Hybris.

 

Zeit seines Lebens war Carlos Fuentes ein scharfer und pointierter Kritiker lateinamerikanischer Diktatoren wie Oligarchen und deren Gönner in Washington. Aber er versuchte auch, die gemeinsamen Wurzeln und Interessen der Menschen in Europa und auf seinem Subkontinent herauszuarbeiten. In dem fast 400 Seiten langen Essay „Der vergrabene Spiegel“ aus dem Jahre 1992 vergleicht er die Geschichte Spaniens mit der Lateinamerikas und gelangt zu überraschenden Schlüssen. So weist er darauf hin, dass die spanische Sprache nicht nur durch die römischen Besatzer und von den Ibero-Kelten allein geprägt wurde, dass vielmehr ein Großteil der Begriffe und Wörter aus dem Hebräischen und Arabischen stammen. Seine Feststellung, dass kein Spanier sich einer „lupenreinen“ arischen Abkunft rühmen dürfe, wird von der Tatsache gespiegelt, dass die alteingesessenen Familien Lateinamerikas allesamt Blut indigener oder schwarzer Herkunft in ihren Adern haben. Folglich gibt es keinerlei Grundlagen für jene Arroganz, die sich aus der vermeintlich edleren Abkunft speist. Fuentes fordert mehr gegenseitiges Verständnis, greift den Caudillismo, den Größenwahn der lateinamerikanischen Führer, an und propagiert eine „Rettung durch die Kultur“, die auch endlich den Massen die soziale Befreiung bringen soll. 

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Annie Proulx

 

 

Copyright: Jo Schwartz, Köln

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sie ist längst keine Unbekannte mehr, die 1935 in New England geborene Annie Proulx, die erst im Alter von 53 Jahren ihren ersten Erzählungsband veröffentlichte und vier Jahre später für den Roman „Postkarten“ den PEN/Faulkner-Award erhielt, im Jahr darauf dann den Pulitzer-Preis für ihr wohl bekanntestes Werk „Schiffsmeldungen“. Die Erzählung „Brokeback Mountain“ der Autorin mit franko-kanadischen Vorfahren mütterlicherseits wurde von Ang Lee verfilmt und mit drei Oscars ausgezeichnet, einer davon für das Drehbuch, das Proulx selbst verfasst hatte. Dennoch gehört die Spätstarterin, die dann allerdings mit enormer Schaffenskraft verlorene Jahre wettmachte, nach Kritikermeinung nicht unbedingt in den Kanon der zeitgenössischen amerikanischen Großliteratur. Das liegt aber weniger an ihrer Qualität und Sprache, als vielmehr an den Menschen, über die sie schreibt, und die Gegenden und Milieus, in denen sie ihre Handlungen ansiedelt; beide passen als Sujets nicht in die selbstbezogene Kunstlandschaft, die von den maßgeblichen Feuilletons geschätzt wird.

 

Das Personal in den Romanen und Erzählungen der Annie Proulx bilden nicht die üblichen Mittelständler mit intellektuellem Hintergrund, frustrierten Künstler und sensiblen Banker, sondern die Rednecks, Cowboys, Kleinstädter, das Landproletariat, die Gescheiterten der weiten ruralen Ebenen und Hochländer Nordamerikas. Proulx schildert ihren Überlebenskampf in einem ständig von den Extremen des Kontinental-klimas, von den sich beinahe zyklisch wiederholenden Natur-katastrophen und den Machenschaften der großen Nahrungsmittel-konzerne und Banken bedrohten Territorium. Ihre Protagonisten verfügen oft nicht einmal über ein Mindestmaß an Allgemeinbildung, entbehren jeglicher sozialer Absicherung, sind misstrauisch und reaktionär. Dennoch verkommen sie bei Annie Proulx nicht zu Karikaturen einer geistig minderbemittelten Spezies. Sie haben ihre oral history, die mündliche Überlieferung, als Wissensquelle, sie sind gastfreundlich (allerdings fremdenfeindlich zugleich), besitzen ein Gespür für das Durchlavieren in rauen Zeiten und an unwirtlichen Orten und leisten sich bisweilen sogar einen etwas gewöhnungsbedürftigen Humor. All das hilft ihnen, ein karges Leben in einem harten Land zu führen. Die Porträts der ostkanadischen Fischer, der Rinderzüchter in Texas, der Kleinfarmer in Wyoming oder der verarmten Einwanderer aus der Alten Welt fügen sich zu einem Gesamtbild, das uns Europäern die Situation und das politische Klima in Nordamerika abseits von Wallstreet, Washington und Hollywood verständlicher, wenn auch nicht immer sympathischer macht. Und die Autorin weiß, worüber sie schreibt; sie kennt die Provinz hautnah aus der eigenen Biografie: Aufgewachsen in Kanada, lebte sie dreißig Jahre im hinterwäldlerischen Vermont, ehe sie mit Sechzig in ein Haus ohne Strom und Wasser in Wyoming, sozusagen in the middle of nowhere, zog.

 

Annie Proulx differenziert in ihrer klaren Sprache, sie denunziert ihre Land(s)leute nicht als vorgestrige Kretins, aber sie schönt auch nichts, nicht ihre rassistischen Vorurteile, nicht die Beschränktheit ihres Blicks auf die Welt und auch nicht ihre verklemmte Sexualität. In der Erzählung „Brokeback Mountain“ schildert sie einfühlsam das Martyrium zweier schwuler Cowboys, die ihre Beziehung ein Leben lang hinter „normalem“ Eheleben verbergen müssen, um sozialer Ächtung und brutaler Verfolgung bis hin zur physischen Auslöschung zu entgehen. Bei der Lektüre beginnt man zu begreifen, woher Sarah Palin und die Tea-Party-Bewegung kamen, warum es überhaupt Menschen im Mittelwesten oder auf den südlichen Plains gibt, die einen Reagan früher und einen Romney heute wählen. Aber man versteht auch, dass geistiger Isolationismus und Ressentiments nicht für die Ewigkeit festgeschrieben sein müssen.

 

Die Erzählungssammlungen wie „Herzenslieder“ oder „Hinterland“ skizzieren manchmal mit leichter Hand die Verfehlungen, Wahnsinnspläne oder Illusionen der Pioniere ohne Vision, geraten bisweilen sogar zu Satiren, wie sie ein Leben mit Gott, aber nicht viel Verstand so schreibt, sind ab und zu eine bittere Bestandaufnahme des angekündigten Scheiterns von Individuen und Familien. Den Schwerpunkt des Werkes von Annie Proulx aber, die atmosphärisch dichtesten Abbildungen einer Gesellschaft in zugleich grandioser und grausamer Umgebung bilden ihre vier Romane. Da wird der junge Loyal nach dem vertuschten Totschlag an seiner Frau zum Getriebenen, zum Tramp durch die zentralen Bundesstaaten, arbeitet als Fallensteller, Paläontologenhelfer oder Bohnenfarmer. Doch er scheitert überall aus den unterschiedlichsten Gründen, er wird nie mehr sesshaft werden. Aus allen Orten, in denen er strandet, sendet er Postkarten an das Zuhause seiner Erinnerung, das so längst nicht mehr existiert und das er auch nicht wieder aufsucht.

 

Ein wenig optimistischer gestaltet sich die Geschichte in „Schiffs-meldungen“, wo sich ein betrogener und gedemütigter Vater von zwei kleinen Kindern ohne jede Perspektive nach Norden aufmacht, um an der kanadischen Ostküste ein neues Leben zu beginnen. Die Menschen dort sind ernsthaft und schwerfällig genug, um in dem unbeholfenen neuen Lokalreporter nach Anlaufschwierigkeiten Ihresgleichen zu erkennen und zu akzeptieren. „Mitten in Amerika“ thematisiert den Versuch eines (noch) jungen, orientierungslosen Mannes, endlich beruflich erfolgreich zu werden. Er freundet sich mit den knorrigen, strikt konservativen Einheimischen im Panhandle-Distrikt zwischen Texas und Oklahoma an, verschweigt ihnen aber, dass er auf der Suche nach geeigneten Ländereien ist, die ein Nahrungsmittel-Multi für seine gigantischen, die Umwelt verpestenden Schweinemast-Anlagen erwerben will.

 

Der für mich schönste, in jedem Fall aber facettenreichste und die kulturelle Vielfalt Amerikas am intensivsten beleuchtende Roman ist „Das grüne Akkordeon“. Die Episodenhandlung beginnt auf Sizilien, wo das Instrument gebaut wird, um wenig später von seinem Erschaffer in die Vereinigten Staaten mitgenommen zu werden, wo dieser Opfer eines Pogroms gegen Italiener in New Orleans wird (eine wenig bekannte historische Tatsache). In der Folgezeit wechselt das Knopfakkordeon aus den Händen von deutschen Immigranten in die von schwarzen Zydeco-Musikern, von Latinos zu Frankokanadiern, zu Polen oder baskischen Schafhirten in den Rocky Mountains. Bis zum Ende, das zumindest einen Hoffnungsschimmer andeut, bringt das Instrument niemandem Glück (daher der treffendere US-Originaltitel „Accordion Crimes). Jede Einwanderergruppe spielt „ihre“ Musik auf der Quetsche, die Menschen tauschen sich aber nicht aus, haben auch wenig Verständnis für die Melodien der anderen. Im Verlauf dieser Odyssee wird dem Leser klar, was die Vereinigten Staaten darstellen: ein Mosaik aus hochwertigen (ethnischen) Steinen, die sich nicht zusammenfügen mögen. Wer Annie Proulx liest, kann am ehesten kapieren, wie das Herzland Nordamerikas tickt.




Miguel Ángel Asturias

Der Vergessene des Magischen Realismus


Wenn ein Autor die literarischen Ausdrucksformen einer ganzen Weltregion entscheidend mitprägt, wenn er in einer Zeit, die noch sorgfältigeres Lesen und intensivere inhaltliche Auseinandersetzung kannte als die heutige, den Nobelpreis erhält, ist die Wertschätzung seines Werkes für lange Zeit gesichert – sollte man meinen. Der Guatemalteke Miguel Ángel Asturias verlieh den Unterdrückten seines Landes erstmals eine Stimme, führte surrealistische Entwürfe mit den Erzählungen, der oral history, der Maya-Völker zusammen und erhielt 1967 den Literatur-Nobelpreis für die „Bananen-Trilogie“, die epische Abrechnung mit diktatorischer Machtausübung und todbringender Ausbeutung durch die in Nordamerika angesiedelten Konzerne. Wenn man aber in Katalogen nach Romanen und Erzählungen sucht, wird man nur noch auf wenige lieferbare Titel in deutscher Sprache stoßen. Man muss sich schon auf gebrauchte Bücher, die im Internet angeboten werden, verlegen. Qualität, Facettenreichtum und geopolitischer Hintergrund entsprechen schon lange nicht mehr den literarischen Präferenzen des Zeitgeistes.

 

Guatemala ist für mich eines der schönsten Länder der Welt: Auf wenig mehr als 100.000 Quadratkilometern präsentiert ein Kontinent en miniature Naturwunder und architektonische Höhepunkte in erstaunlicher Vielfalt: Der Urwald von El Petén mit der Maya-Metropole Tikal im Norden geht in grandiose Hochgebirgslandschaften über, in deren Tälern sich berühmte Indianermärkte und der legendäre, von Vulkanen gesäumte Lago Atitlán befinden. Die Strände an der Karibik und am Pazifik im Süden sind ebenso Reiseziele wie das koloniale Antigua, das als attraktivste Stadt Mittelamerikas gilt. Guatemala ist zugleich das Land in Lateinamerika, in dem Gewalt gegen die Bevölkerung am brutalsten angewendet wurde. Von 1954, als der gewählte Präsident Jacobo Árbenz Guzman von US-Piloten aus dem Amt gebombt wurde, bis zum Friedensschluss 1997 starben in einem fast ununterbrochenen Bürgerkrieg an die 200.000 Menschen, in der Mehrzahl indianische Kleinbauern. Guatemala ist neben Bolivien das einzige Land Lateinamerikas, in dem indígenas die Bevölkerungsmehrheit bilden, und ihre traditionelle Landwirtschaft war den wechselnden Militärdiktaturen, die im Auftrag der CIA die Interessen der Agrar-Monopolisten (von der legendären „United Fruit“ über Brands und Dole bis hin zu den modernen Nahrungsmittel- und Mischkonzernen Proctor & Gamble sowie Nestlé) zu wahren hatten, ein Dorn im Auge. Allein zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden unter den Regimes der Generäle Lucas García und Rios Montt rund 70.000 Menschen ermordet. Letzterer muss sich derzeit endlich wegen Auslöschung ganzer Maya-Dörfer vor Gericht verantworten.


Der 1899 geborene Mestize Asturias studierte nach der Schule Jura und gründete mit Freunden eine Volkshochschule, die Bildungsangebote für die Mittellosen vorhielt. Ein Ökonomie-Studium, das auf Geheiß seiner begüterten Familie in London begann, brach er 1923 ab. Statt eine BWL- oder VWL-Karriere einzuschlagen, studierte er lieber Religions- und Völkerkunde an der Pariser Sorbonne, reiste durch Europa und veröffentlichte die ersten Prosa-Arbeiten. Schon zu dieser Zeit wurde Guatemala von einem Diktator, Jorge Ubico, regiert, dessen ausufernder Brutalität Asturias in zwei Romanen ein literarisches Mahnmal setzte: In „Der Herr Präsident“ zeigt er auf, mit welchem sublimen Sadismus menschliche Beziehungen in der Terror-Herrschaft zerstört werden, wie aus Individualisten Marionetten und aus Kritikern Folteropfer werden. In „Die Augen der Begrabenen“, dem letzten Teil der „Bananen-Trilogie“, sonnt sich der Diktator, den zuvor Agenten und Oligarchen an der Spitze installiert hatten, im höchsten Glanz seiner Macht. Doch trotz ungezählter Opfer ist das kollektive Gedächtnis des Volkes nicht getilgt worden, formiert sich der Widerstand in den Schwarzen-Vierteln an den Küsten und in den Maya-Dörfern des Hochlands. Beide Werke stehen in der Tradition des lateinamerikanischen Diktatoren-Romans, der die Mechanismen und Beweggründe der lange Zeit für Lateinamerika typischen Schreckenshierarchien ausloten will. Weitere herausragende Beispiele für diese Gesellschafts- und Charakterstudien sind „Der Herbst des Patriarchen“ von Gabriel García Márquez und vor allem „Ich der Allmächtige“ des Paraguayers Roa Bastos.


„Don Niño oder Die Geographie der Träume“ ist dagegen eine sanft erzählte Geschichte mit surrealen Bezügen, in der das Personal eines Wanderzirkus die menschlichen Beziehungen zwischen Diktat und Ohnmacht paraphrasiert – die Manege als gesellschaftliche Allegorie in der Phantasie eines schlafenden Kindes.

 

In „Der böse Schächer“ wird die Eroberung Guatemalas durch die spanischen Konquistadoren thematisiert. Der Feldzug fächert sich auf, die verschiedenen Maya-Völker kämpfen mit unterschiedlichen Methoden, darunter auch Magie und Heimtücke, die Waffe der militärisch Unterlegenen, gegen die Eroberer. Aber auch die Spanier bilden keine homogene Truppe, haben unvereinbare Interessen; kulturelle, weltanschauliche und vor allem religiöse Differenzen werden offenbar. 

Wie in „Legenden aus Guatemala“ verwebt Asturias auch in „Die Maismenschen“, seinem wohl wichtigsten Roman, Bruchstücke der Maya-Mythologie mit der realen Geschichte der Eroberung des Landes und – daraus folgend – der Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Völker. Gaspar Ilóm, ein Anführer der Indio-Bauern, widersetzt sich den Großgrundbesitzern. Der Schöpfungsgeschichte nach wurden die Menschen aus Mais geformt. Das Getreide ist das wichtigste Nahrungsmittel, aber man soll damit keinen Handel aus Profitgründen treiben. Angesichts solch rückständiger Moral treten Soldaten auf den Plan und treiben Gaspar Iliom in den Tod. Der Widerstand ist dadurch aber nicht gebrochen; Offiziere werden mit verhängnisvollen Flüchen belegt, die Verfolgten verwandeln sich in Tiere, wie auch eine junge Frau, die von ihrem blinden Liebhaber quer durch das ganze Geschehen gesucht wird. In teilweise lyrischer Sprache zeigt Asturias, dass die von Skeptikern aus der Ersten Welt akzeptierte Wahrheit nicht alles ist, dass Überlieferungen, alternative Empfindungen und Wahrnehmungen der indigenen Völker eine weitere Dimension der Wirklichkeit öffnen. „Die Maismenschen“, 1949 erstmals veröffentlicht, ist neben „Pedro Páramo“ (1955) des Mexikaners Juan Rulfo der Schlüsselroman des magischen Realismus, jener lateinamerikanischen Form der Prosa, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die literarische Welt elektrisierte.

 

Asturias selbst erklärte seine Herangehensweise folgendermaßen: „Eingedenk der psychischen Realitäten, der magischen Eigenschaften, die in der mir nahestehenden Welt nun einmal vorherrschend sind, kann man nicht billige realistische Darstellungsweisen wählen, muss man auf diese Voraussetzungen stilistisch eingehen...“

  

Nach dem Sturz des Diktators Ubico war der mittlerweile bekannte Schriftsteller in den diplomatischen Dienst seines Landes eingetreten. Als der Sozialreformer Jacobo Arbenz mit Hilfe von CIA und US-Army verjagt worden war, trat Asturias von seinen Ämtern zurück und ging später, 1962, ins argentinische Exil. Während eines kurzen demokratischen Intermezzos 1966 wurde er zum Botschafter Guatemalas in Paris ernannt. Er starb am 9. Juni 1974 in Madrid.

 

Dass die Bücher eines Großschriftstellers wie Miguel Ángel Asturias in Vergessenheit und aus dem Handel geraten können, ist einmal der Euro- und US-Zentriertheit der deutschen Verlage und Feuilletons, zum anderen dem kurzen Gedächtnis einer auf Erzeugnisse mit praktischem Nutzen, sprich: Profitabilität, und greller Oberfläche fixierten Kulturszene geschuldet. Dass Asturias` Werk weiter eine Bedeutung auch außerhalb der literarischen Sphären hat, belegte schon der Sohn Rodrigo: Als Kommandant der Guerilla-Organisation ORPA nahm er ab 1972 das Pseudonym Gaspar Ilóm an, den Namen des Indianerführers in „Die Maismenschen“.






Flann O`Brien

  

Von Frankreich, Spanien, den Niederlanden
bis zu den Küsten des fernen Japan,
überall die Leute schon immer fanden,
EIN GOTTESGESCHENK SEI DER ARBEITSMANN.
Aus „In Schwimmen-Zwei-Vögel“

 

In der relevanten Romanliteratur gibt es selten etwas zu lachen. Schon das Ur-Epos der neuzeitlichen europäischen Prosa, der „Don Quijote“, ist trotz der komödiantisch gezeichneten Hauptpersonen und der allegorischen Irrungen und Verwechslungen ein eher melancholischer Abgesang auf die Ritterromantik und Sagengläubigkeit des Mittelalters. Da musste schon ein anarchischer Ire mit kruder Phantasie, enormen stilistischen Möglichkeiten sowie einem ausgeprägten Hang zu Whiskey und Stout kommen, um dem Humor eine Schneise durch die düstere Kulturlandschaft am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu schlagen.


Brian O`Nolan (1911 – 1966) stammte aus Strabane im Nordwesten Irlands. Nach dem Besuch des katholischen Blackrock College, in dem er nicht eben fromm wurde, und dem Studium an der Universität in Dublin trat er in den Staatsdienst ein. Seine Laufbahn als Ministerialbeamter lastete ihn offenbar nicht völlig aus, sodass er unter dem Pseudonym Flann O`Brien fünf der abstrusesten Roman-Grotesken der Weltliteratur, einige Erzählungen sowie die Komödie „Faustus Kelly“ schreiben konnte. Als Miles na Copaleen verfasste er zudem Glossen und satirische Skizzen für die „Irish Times“ und avancierte zum Kult-Kolumnisten des intellektuellen Dublin.


Dass er 1939 seinen ersten Roman mit dem absurden Titel „In Schwimmen-Zwei-Vögel“ (ein irisches Dorf heißt tatsächlich "Swim-Two-Birds“) veröffentlichen konnte, verdankt er auch seinem Lektor, selbst einer der schillerndsten Literaten des 20. Jahrhunderts: Der Engländer Graham Greene (u. a. „Die Stunde der Komödianten“, „Der stille Amerikaner“, „Der dritte Mann“), erkannte die Sprachgewalt, den alle Grenzen sprengenden Sinn für skurrile Besatzung und widersinnig verflochtene Handlung sofort. Er verglich O`Briens Debüt mit dem „Ulysses“ von James Joyce und dem „Tristram Shandy“ von Laurence Sterne, der im 18. Jahrhundert mit seiner (absichtlich) verfehlten Biographie eines Edelmanns als Wegbereiter der ironischen Moderne für einen Skandal gesorgt hatte.


Ein aberwitziges Personal bevölkert „In Schwimmen-Zwei-Vögel“. Der nicht sehr fleißige und etwas schmuddelige Student Trellis, ständig von seinem Onkel, einem ehrgeizigen Spießer, getriezt, zieht es vor, sich literarisch zu betätigen, statt sich in Seminaren herumzutreiben. Er entlehnt Figuren aus der irischen Mythologie, aber auch aus der Dubliner Realität und lässt sie in unmögliche Situationen geraten. So spielt eine winzige „gute Fee“ Poker gegen einen Pooka (irische Teufelsgestalt), es treten ein Mann, der erst mit 25 Jahren geboren wurde, der Sagenheld Finn Mac Cool, der vorwiegend auf den Bäumen lebt und in Reimen redet, sowie der Arbeiterdichter Casey (s. sensible Eingangsstrophe) auf. Die Personen verselbständigen sich und schließen sich zusammen. Das ist nicht neu, den Roman im Roman gab es schon früher. Doch diesmal schlagen die Erfundenen zurück und laden ihren Autor vor ein Tribunal, weil sie sich ungerecht beschrieben fühlen.


Der Roman, von dem selbst James Joyce so begeistert war, dass er kurz vor seinem Tod noch versuchte, Rezensionen in verschiedenen Zeitungen zu initiieren, begründete den internationalen Ruf von Flann O`Brien, der auch mit anderen Literaten, etwa dem jungen Samuel Beckett, in Austausch stand.


Zwei Jahre nach seinem fulminanten Debüt zog sich der zweisprachig schreibende Groß-Satiriker mit einem Büchlein in englischer („The Poor Mouth“) und irischer Version den Zorn der Eire-Nationalisten zu. In dem Kurzroman, der übrigens wie „Das harte Leben“ (s. u.) von Heinrich Böll und seiner Frau ins Deutsche übersetzt wurde (Titel: „Das Barmen“ oder „Irischer Lebenslauf“), persiflierte er die üblicherweise tragische Biographie des typischen jungen Mannes vom Lande. Da teilt sich die Familie das Wohnzimmer getreulich mit Schweinen, Schafen und Hühnern. Englische Volkszähler und preußische Sprachforscher verwechseln irische Sprösslinge mit Ferkeln, und auf einem feis, einer Art Vorform von „Irland sucht den Superstar“, hauen sich Barden mit Künstlernamen wie Die Torfsode oder Der Dativ die „süße gaelische Sprache“ so lange um die Ohren, bis einer von ihnen Amok läuft und ein anderer Selbstmord begeht.


In „Das harte Leben“ kommen zwei junge Burschen nach dem Tod ihrer Eltern in die Obhut von Mr. Collopy, einem frommen Whiskey-Liebhaber, der alles daransetzt, eine Privataudienz beim Papst in Rom zu erlangen. Als dies mit viel Geduld und List bewerkstelligt ist, sieht sich Onkel Collopy am fast am Ziel seiner Wünsche, bis der Heilige Vater auf ein unanständiges Anliegen, das ihm bei dieser Gelegenheit unterbreitet wird, mit unheiligem Zorn reagiert.


Nichts Geringeres als der Weltuntergang dräut in „Aus Dalkeys Archiven“, was aber die Einwohner des Dubliner Vororts nicht sonderlich zu beunruhigen scheint. Zu den weiteren Kuriositäten der Handlung zählen Fahrräder, die ihre Besitzer belauschen. Zudem zeigt sich, dass James Joyce gar nicht gestorben ist, sondern in einer Bar kellnert und bereut, Schweinkram wie den „Ulysses“ geschrieben zu haben.

In Flann O`Briens letztem Roman „Der dritte Polizist“ treten zwar ein junger Mann, der sein Leben nach den Maximen eines (fiktiven) franzöischen Vulgärphilosophen führt, sowie zwei seltsame irische Gendarmen auf, doch fehlt die Titelfigur. Ehe die Hauptperson bemerkt, dass an der ganzen Szenerie etwas nicht stimmt, hat ihn das Schicksal schon am Wickel.


Mittlerweile sind auch die Kurzprosa und Zeitungskolumnen des genial irren Iren (großenteils von Harry Rowohlt übersetzt) in deutscher Sprache erschienen, und mir bleibt nur, als letzte Würdigung O`Briens ständig wiederkehrendes Motto aus dem „Barmen“ zu zitieren: „Ich glaube nicht, dass es seinesgleichen jemals wieder geben wird!“  





Louise Erdrich


Als die spanischen und portugiesischen Konquistadoren Mittel- und Südamerika eroberten, begingen sie unfassbare Verbrechen aus materieller Gier und rassistischer wie katholischer Hybris, aber sie vermischten sich mit den Ureinwohnern, die wir hier nach der falschen kolumbischen Hypothese „Indianer“ nennen wollen. Mit der Zeit arrangierten sie sich sogar nach und nach mit der Geisteswelt der indigenen Völkern. So konnte später eine Literatur entstehen, die indianische Überlieferung und kreolische Kultur vereinte.


Als die Angelsachsen Nordamerika kolonisierten, waren die Eingeborenen Hindernisse für die weitere Expansion, und die kalvinistische und lutherische Bigotterie verhinderte für Jahrhunderte Mischehen und Verschmelzung von Kulturen. So gibt es heute in Lateinamerika noch Länder mit indigener Bevölkerungsmehrheit (z. B. Guatemala und Bolivien) und eine von Mestizen geschaffene Hochliteratur (etwa Asturias, García Márquez, Rulfo), während in den USA und Kanada die Reste indianischer Völker zu einem bedeutenden Teil isoliert in Reservaten verkümmern und vergleichsweise wenige Autorinnen und Autoren hervorgebracht haben.


Erst seit rund hundert Jahren nahmen USA-Chronisten die Urbevölkerung als kulturell eigenständigen Bevölkerungsteil wahr, heirateten Indianer und Weiße häufiger  untereinander, wurden der „roten“ Minderheit, der zuvor das Land genommen worden war, (vergleichsweise geringe) Rechte eingeräumt. Zwar sehen die WASPS (White Anglo-Saxon Protestants) mehrheitlich in den einstigen Herren des Landes  immer noch alkoholisierte Sozialschmarotzer, unterstellt die Mehrheit in God`s own Country ihnen intellektuelle Passivität und Desinteresse, doch hat sich inzwischen mit Verspätung eine grandiose Indianer- und Mestizen-Literatur entwickelt, deren wichtigste Vertreterin wohl Louise Erdrich ist.


Die 1954 als Tochter einer Chippewa-Indianerin und eines Deutschstämmigen geborene Louise Erdrich siedelte die Handlung ihrer Romane überwiegend in den mittelwestlichen Bundesstaaten North Dakota und Minnesota an der kanadischen Grenze an. Die Pionierstädte dort, deren Namen ähnlich wie bei Faulkners Jefferson frei erfunden sind, liegen an den Grenzen einer fiktiven Indianer-Reservation. Das Leben der indigenen Bevölkerung sowie der Métis (französisch für Mestizen), ihre allgegenwärtige Interaktion mit den weißen Nachbarn und die oft blutige Verflechtung von Tätern und Opfern in der Vergangenheit bilden das Hauptthema von Erdrichs Prosa. Nur in „Der Club der singenden Metzger“ lässt sie sich von der anderen Linie der eigenen Abstammung  inspirieren und schildert die „Integration“ eines nach dem Ersten Weltkrieg aus Schwaben in die amerikanische Prärie ausgewanderten Fleischermeisters, der nicht nur mit den Sitten der Yankees, sondern auch mit den Relikten  indianischer Verhaltensnormen konfrontiert wird.


Die Romane der 1980er und 90er Jahre beschreiben die Komödien, Tragödien und schuldhaften oder unglücklichen Verwicklungen stets derselben weit verzweigten Chippewa-Familien in der imaginären Reservation oder an deren Rande in North Dakota. Immer wieder geraten Angehörige der Kashpaws, Morrisseys oder Nanapushs mit dem Gesetz in Konflikt, brechen Ehen und gehen abenteuerliche Liebesbeziehungen ein. Da die Szenerie nicht nur von der profanen Realität in den Vorgärten der US-Gesellschaft, sondern auch von Traditionen und Riten, die wider Erwarten überlebt haben, geprägt ist, könnte man auf den Gedanken kommen, Erdrich sei eine typische Sparten- oder Minderheiten-Schriftstellerin, die den Überresten einer Ethnie ein konventionelles literarisches Denkmal setzen möchte. Doch obwohl sie latent den Landraub und die Vertragsbrüche durch die US-Regierung zitiert, wird keine larmoyante und letztlich hilflose Beschwerde geführt, sondern ein üppiges Panorama geschaffen, in dem Slapstick und Drama einander abwechseln und die Indianer nicht vorrangig als unschuldige Opfer und damit unglaubwürdige Helden, sondern als moralisch ambivalente Personen mit teils skurrilen, teils verhängnisvollen Neigungen zu Religiosität, Alkohol oder Glücksspiel porträtiert werden.


Die unvorhersehbaren Wendungen in den Plots und die Implementierung einer „superrationalen“ Ebene schrieben Kritiker der Affinität Erdrichs zu spanischen Schelmenromanen und dem Magischen Realismus der Lateinamerikaner zu. Doch hinter dem sprachlichen Feuerwerk schimmert eine bittere Erkenntnis durch: Angekommen in der US-Gesellschaft sind die indigenen Völker noch lange nicht.


Die Bücher von Louise Erdrich muss man nicht in chronologischer Reihenfolge lesen. Auch wenn sich in „Spuren“ oder „Liebenszauber“ die Namen erwähnten Familien wiederfinden – zum Verständnis sind für den Leser keine Vorkenntnisse nötig. Eine Ausnahme: Bei „Der Bingo-Palast“ und „Geschichten von brennender Liebe“ sollte diese Reihenfolge eingehalten werden, da ein Handlungsstrang aus ersterem Roman eine Fortsetzung im zweiten erfährt.


In den nach der Jahrtausendwende verfassten Romanen wie „Der Klang der Trommel“ oder „Solange du lebst“ erweitert sich der Blickwinkel der Autorin. Die Fakten der Vergangenheit drängen sich, zunächst kaum merklich, in das gegenwärtige Leben der Protagonisten, seien es die Folgen einer historischen Landnahme, der unaufhaltsame Niedergang des Ortes Pluto zur Geisterstadt oder die späte Auswirkung eines Lynchmordes an drei Indianern auf die Existenz mehrerer Familien. Zwar wird die Verantwortlichkeit für die Desaster benannt, doch hat die Zeit zur Vermischung von Verantwortlichen und ursprünglich Schuldlosen geführt, und Verräter gibt es auf beiden Seiten.


Im bislang letzten ins Deutsche übersetzten Roman von Louise Erdrich, „Schattenfangen“, fühlt man sich zunächst in ein für die moderne US-Literatur typisches Ehe-Drama à la Richard Yates oder John Updike versetzt. Der Maler Gil und die ewige Doktorandin Irene bilden mit ihren drei intelligenten, sensiblen Kindern die typische Intellektuellen-Familie, in der die obligatorische Sinnkrise eskaliert. Irene will sich scheiden lassen und stellt ihrem Mann, der nicht loslassen kann, eine Falle. Aber beide sind Mestizen, und es ist der kulturelle Nachhall ihrer Abstammung, der ihren Handlungen eine ungeahnte Brisanz und der gegenseitigen emotionalen Abhängigkeit atemlose Aggressivität verleiht. Die Kinder entwickeln ihre eigenen Überlebenstechniken im familiären Sturm, sind aber am Ende einer Katastrophe, deren Darstellung in der US-Literatur an Eindringlichkeit Ihresgleichen sucht, hilflos ausgeliefert.


Louise Erdrich, 2012 mit dem National Book Award ausgezeichnet und auch als Lyrikerin erfolgreich, ist nicht nur eine glänzende Stilistin mit überbordender Phantasie, sie erinnert in ihren Romanen auch an das eine oder andere schamhaft (?) verschwiegene Kapitel der nordamerikanischen Siedlungsgeschichte, etwa an den gescheiterten Métis-Aufstand im 19. Jahrhundert, der mit der Hinrichtung des charismatischen Anführers Louis Riel durch die kanadische Obrigkeit endete. Einen Teil ihrer Verlagshonorare und Preisgelder steckt sie in einen unabhängigen Buchladen in Minneapolis, Minnesota, der Bücher in der Ojibwe-Sprache publiziert: Literatur gegen das Vergessen.




 

Malcolm Lowry 

  

In der inhaltlichen Auseinandersetzung mit großen Autoren und deren bedeutendsten Werken versuchen Kritiker immer wieder zwei Fragen zu beantworten: Was ist ein Jahrhundert-Roman? Und wie stark wird die Prosa von der Biographie des Schriftstellers geprägt?

 

Einen Roman, der neue Wege in Form und/oder Handlung beinhaltet, die Sprache revolutioniert, andere Autoren inspiriert und den Lesern ein intellektuelles Erlebnis vermittelt, kann man wohl als Jahrhundert-Roman bezeichnen, soweit sich seine Wirkung über einige Generationen erstreckt. „Don Quijote“ von Cervantes etwa war ein epochales Werk, für das Ende des zweiten Jahrtausends könnte man vielleicht den „Ulysses“ des Iren James Joyce sowie „Hundert Jahre Einsamkeit“ des Kolumbianers Gabriel García Márquez nennen – und „Unter dem Vulkan“ von Malcolm Lowry.

 

Cuernavaca im Vulkanschatten des Popocatepetl ist der Schauplatz eines Totentanzes, dessen Protagonisten durch eine Hölle aus brutaler Gewalt, Liebesverlust und maßlosen Alkohol-Eskapaden taumeln. An Allerseelen, dem in Mexiko kultisch gefeierten Tag der Toten, erwartet der englische Ex-Konsul Geoffrey Firmin, ein von Mezcal und Schatten der Vergangenheit gezeichnetes Wrack, seine Ex-Frau Yvonne. In den hintersten Winkeln seines benebelten Gehirns hält sich die Hoffnung, mit ihr einen Neuanfang zu schaffen. Ein weiterer – eher unwillkommener – Gast trifft ein: der jüngere Halbbruder Hugh, der sich den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg anschließen will. Für zwei der drei Hauptpersonen wird Allerseelen der letzte Tag ihres Lebens sein.

 

Etwa acht Jahre lang schrieb Lowry an diesem Roman, änderte in sechs Versionen Handlung und Erzählperspektiven immer wieder signifikant, maß den Helden neue Anteile und Bedeutungen zu, nahm Anleihen aus der jüdischen Kabbala oder aus dem Mahabarata der Hindus, um ein weltumfassendes poetisches und metaphorisches System zu kreieren (in dem übrigens der Alkohol nicht selten zur psychodelische Droge verklärt wird). Und in dem ihm eigenen hemmungslosen Symbolismus erinnert das immer wieder auftauchende Warnschild „LE GUSTA ESTE JARDÍN ...“ („Gefällt Ihnen dieser Garten, der Ihnen gehört? Verhindern Sie, dass Ihre Kinder ihn zerstören!“) an die Vertreibung der Menschen aus dem Garten Eden.

  

Als im Jahr 1946 nach endlosen Ablehnungen sowohl ein englischer als auch ein amerikanischer Verlag ihr Interesse an „Unter dem Vulkan“ signalisieren, fährt Lowry mit seiner zweiten Ehefrau Margerie, die ihm als Mentorin, Sekretärin und de facto Lebensretterin zur Seite steht, nach Mexiko. Auf den Spuren seiner ersten Reise in dieses, die bereits mit Delirium und Knast geendet hatte, vielleicht auch im Banne seines fiktionalen Saufbruders Firmin, gerät er wieder in die tiefsten Abgründe des Suffs, hysterisch begründete Depressionen und handfeste Schwierigkeiten mit der nicht gerade harmlosen mexikanischen Obrigkeit, die das Ehepaar schließlich ausweist. Die ersten Etappen dieser Reise, als das Paar noch harmoniert, wenn auch bereits auf dünnem Eis, hat Lowry in dem postum erschienenen Romanfragment „Dunkel wie die Gruft, in der mein Freund begraben liegt“ nachgebildet. Sein Alter Ego ist der Schriftsteller Wilderness, dessen Zusammenbruch sich andeutet, als er einen indianischen Freund in Oaxaca besuchen will, dort aber von dessen Tod erfährt. Womit wir bei der zweiten eingangs gestellten Frage wären: Hat Malcolm Lowry im Grunde nur sein eigenes Leben als Roman verkleidet?

 

Einige positivistische Wissenschaftler interpretieren literarische Stoffe ausschließlich aus dem Lebenszusammenhang der Autoren – ein problematischer Ansatz, da er Bewusstseinserweiterung, grenzüberschreitende Kreativität und Empathie weitgehend ignoriert. Bei Malcolm Lowry allerdings scheinen sie zunächst richtig zu liegen. Schon sein erster Roman „Ultramarin“ ist eine kaum getarnte schriftstellerische Aufarbeitung seiner Fahrt als 18-jähriger Schiffsjunge auf einem britischen Frachter – mit all ihren Enttäuschungen, Demütigungen und der Erinnerung an eine erste Liebe. Später heißen die Hauptpersonen zwar Plantagenet, Wilderness oder Llewelyn, doch sie sind alle Lowrys Zwillingsbrüder in Geist und Psyche. Wie er sind sie dem Alkohol verfallen, werden selbst in den seltenen Augenblicken persönlichen Glücks von Ängsten geplagt, folgen kryptischen Theorien und versuchen mit Hilfe ihrer überbordenden Kreativität Meisterwerke zu schaffen. In seinem Opus Magnum „Unter dem Vulkan“ verteilt Lowry eigene Identitätsmerkmale auf zwei Personen: So vertritt der Halbbruder Hugh die Sympathien des Autors für die spanischen Republikaners, während der haltlose, den Untergang heraufbeschwörende Geoffrey dessen dunkle Seite verkörpert.

  

Wenn man den Zeugnissen von Freunden und Kollegen in dem Essay-Band „Spinette der Finsternis / Über Malcolm Lowry“ glauben darf, war dieses Einfließen des realen Daseins in die Fiktion aber keine Einbahnstraße. Was ihm die Phantasie eingab, begann Lowry  in der Realität selbst nachzuvollziehen, sodass er zumindest phasenweise der Romanfigur Geoffrey Firmin im wirklichen Leben immer ähnlicher wurde...

 

Was aber über die rein "biografistische" Rezeption des Autors hinausgeht, ist die Erkenntnis der Wucht und Dichte seiner Sprache, seines ausufernden Gedankenreichtums und seiner Fähigkeit, die menschliche Tragödie in ungezählten Facetten einem sich in etlichen davon wiederfindenden und erschütterten Leser ins Bewusstsein zu hämmern. 

  

Lowry sei ein „Ein-Buch-Autor“ gewesen, ist eine verbreitete Kritikermeinung. Zwar wurde zu seinen Lebzeiten relativ wenig veröffentlicht, doch zählt auch die Novelle „Die letzte Adresse“, in der sich ein ehemaliger Jazz-Musiker freiwillig zur Alkohol-Therapie in eine New Yorker Nervenheilanstalt begibt, zu den großen (und anrührendsten) Texten des 20. Jahrhunderts. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte der besessene Perfektionist Lowry die Erzählung immer wieder umgeschrieben. Die Arbeitsweise des Briten war ähnlich chaotisch wie seine Lebensführung: So geriet die Kurzgeschichte „Oktoberfähre nach Gabriola“ zu einem (unvollendeten) Roman von 350 Seiten, so wurde aus einem über 600 Seiten langen Manuskript am Ende die nur gut 50 Seiten umfassende Story „Elefant und Kolosseum“. Letztere ist Bestandteil der Sammlung „Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst“, die zwar nach Lowrys Tod erschien, aber weitgehend noch von ihm konzipiert wurde. „Dunkel wie die Gruft...“ und „Oktoberfähre...“ hingegen sind Rekonstruktionen, die seine Witwe Margerie Bonner zusammen mit dem Literatur-Professor Douglas Day von der Universität Virginia aus einem gigantischen Materialien-Wust destillierte. Es sind daher keine Meisterwerke, aber sie vermitteln einen umfassenden Einblick in Lowrys anarchische Schaffenskraft, seine latente Paranoia und eine immense Warmherzigkeit.

 

Der 1909 im englischen New Brighton geborene Malcolm Lowry hatte seine kreativste Phase wohl zwischen 1939 und 1955, als er die meiste Zeit mit Margerie an der westkanadischen Küste nahe Vancouver in einem Holzhaus ohne Strom und fließendes Wasser lebte. Die beiden bauten die Hütte sogar eigenhändig wieder auf, als sie 1945 abbrannte (wobei ein vollendetes Romanmanuskript für immer vernichtet wurde). Lowry, obwohl ständig von Geldsorgen geplagt, hatte in dieser Zeit seinen Alkoholkonsum einigermaßen unter Kontrolle, schwamm jeden Tag im Meer und entwickelte sich zum regelrechten Naturschützer, als die Stadtverwaltung im Namen des Fortschritts die squatters vertreiben und die umliegenden Wälder abholzen wollte.

 

Ab 1955 lebte das Paar in England. Lowry, der immer wieder Rückfälle erlitt und wegen des Zitterns seiner Hände oft nicht einmal mehr seinen Namen schreiben konnte, starb zwei Jahre später an einer Überdosis Schlaftabletten, nachdem er offensichtlich im Suff seine Frau aus dem Haus gejagt hatte. Der Autor eines der intensivsten und aufwühlendsten Romane der modernen Literatur wurde 47 Jahre alt. Nur! sagen die einen; ein Wunder, dass er so alt wurde, sagten andere, die ihn näher kannten. 





Juan Rulfo

Mexikanischer Totentanz


Er erlebte früh Gewalt und materiellen Mangel, wie sie das nach-revolutionäre Mexiko prägten, hautnah mit. Sein Vater wurde ermordet, nach dem Tod der verarmten Mutter kam er in ein Waisenhaus; den von Großgrundbesitzern im Westen des Landes angezettelten Cristero-Aufstand frommer Kleinbauern gegen die laizistische Regierung mit Zehntausenden von Toten als Folge (1926 – 1929), den er in der späteren Kindheit als Zeitzeuge mitbekam, verarbeitete er zur historischen Kulisse seines literarischen Werkes.


Als Juan Rulfo 1986 starb, hinterließ er, von zwei Drehbüchern und einigen frühen Erzählungen abgesehen, nur zwei Prosa-Bände, die zusammen in deutscher Übersetzung auf knapp 270 Druckseiten kommen. Und doch gilt der Mann, der sich in Mexiko-Stadt als Regierungsangestellter und Auto-Verkäufer durchschlug und in den letzten Lebensjahrzehnten im Instituto Indigenista für die indianische Urbevölkerung arbeitete, als einer der bedeutendsten Autoren Lateinamerikas. Man könnte sagen, gemeinsam mit Miguel Angel Asturias aus Guatemala („Die Maismenschen“) stieß er durch den 1955 veröffentlichten Kurz-Roman „Pedro Páramo“ das Tor zum Magischen Realismus weit auf, jener Literatur-Richtung, in der die Abbildung einer brachialen und kärglichen Wirklichkeit mit der metaphorischen Schilderung der Vergangenheit, der indigenen Traditionen und einer phantastischen Parallel-Welt verschmilzt. Schriftsteller wie García Márquez („Er hat mir den Weg gezeigt, den meine Büchern fortsetzten.“) beriefen sich später ausdrücklich auf ihren Vordenker Rulfo.


Doch wo andere Autoren des Subkontinents die Üppigkeit der tropischen Vegetation beschworen, eine farbenfrohe Umwelt, die auf der Meta-Ebene von zügellos und ambivalent agierenden Menschen und Phantomen gespiegelt wird, beschrieb der Mexikaner die karge, dürre Landschaft der Llanos, der rauen Hochflächen in den westlichen Bundesstaaten Colima oder Jalisco, Steppen, deren harte Gräser zu Staub verglüht sind und deren Bewohnern die Hoffnung von der Sonne ausgebrannt oder vom ewigen Wind weggefegt wurde, campesinos, die sich an nichts erinnern außer Not und jäh aufflackernder Grausamkeit.


Schon die 1953 erschienene Erzählungssammlung „Der Llano in Flammen“ zeichnet die Elendsregion mit derart überdeutlichen, irisierenden Strichen, dass der Leser eine weitere Bewusstseinssphäre erahnt, obgleich der Autor das sich fast zwangsläufig entfaltende Geschehen und die Empfindungen der Protagonisten, den Schrecken, die Angst,die Verzweiflung, scheinbar teilnahmslos in lakonischer Sprache skizziert. Allgegenwärtig und verlässlich ist allein der Tod – kein Wunder in einem Land, das la muerte als „normale“ Gegebenheit hinnimmt und jedes Jahr Anfang November sogar mit Feuerwerk feiert. Mord undTotschlag geschehen beiläufig,  in Notwehr, aus Rache, im Suff; in einem solchen Land zählen Menschenleben nicht viel, aber seine Bewohner wären keine Menschen, wenn sie nicht an diesem mühseligen Leben hingen, trotz permanenter Rückschläge. So zwingt die Hölle der Armut ein Mädchen in die Prostitution, weil ihre Milchkuh, die einzige Mitgift, im Fluss ertrunken ist. Gerechtigkeit sucht man meist vergebens und kommt es doch einmal zu einem Versuch ihrer Wiederherstellung, dann ist sie zur sinnentleerten Farce verkommen: etwa, wenn ein alter Mann für eine vor 35 Jahren im Affekt begangene Tötung vor das Erschießungskommando gestellt wird; oder, wenn sich das Land, das die Regierung besitzlosen Tagelöhnern zur Verfügung stellt, als Wüste erweist.


Überhaupt rechnet Juan Rulfo rigoros mit den Testament-Vollstreckern der Mexikanischen Revolution ab,in deren Verlauf und Anschluss so große Hoffnungen in so viel Blut ersticktwurden. Soldaten sind in ihrer Grausamkeit von Banditen nicht zu unterscheiden,und nach einem Erdbeben reist der Gouverneur an, um Hilfe zu versprechen,schlägt sich aber zunächst einmal den Magen auf Kosten der armen Dörfler voll. Schon„Der Llano in Flammen“ ist ein in seinem suggestivem Sprachduktus äußerstbeklemmendes, gleichzeitig aber die Phantasie des Lesers mobilisierendes,transzendentes Meisterwerk. Mit „Pedro Páramo“ aber sollte Rulfo zwei Jahrespäter die Grenzen herkömmlicher Literatur weit hinter sich lassen.


Um den Wunsch seiner sterbenden Mutter zu erfüllen, sucht ein junger Mann ihren Geburtsort Comala auf, doch er kommt in ein verlassenes Dorf,  in dem nur die Toten noch zu ihm sprechen. Nach und nach verstrickt er sich in ein Gespinst aus fremden Erinnerungen, dem er nicht mehr entkommen wird. Er erfährt von tragischer Liebe, Verbrechen, Inzest und unerfüllbarem Verlangen aus dem Mund der einstigen Bewohner Comalas, deren Leben nach dem Tod in seiner Armseligkeit dem vor dem Exitus gleicht – sie werden auch jetzt unerlöst bleiben. Über allem aber liegt der übermächtige Schatten des Großgrundbesitzers Pedro Páramo, der seine Konkurrenten betrügt, die Frauen schwängert und ihre Männer töten lässt, der während der Revolution die verschiedenen Milizen gegeneinander ausspielt und sich Killer, Richter oder Pfarrer nach Belieben kauft. Als Susana, die einzige – unerwiderte – Liebe seines Lebens, stirbt, reißt er das Dorf mit sich in den Untergang.


Rulfo variiert ständig die Erzähl-Perspektiven und Zeitebenen. In einer teils harten, teils beinahe lyrischen Diktion gibt er die widersprüchlichen Empfindungen und Mutmaßungen der Menschen (Toten) wieder, schafft er eine opake Atmosphäre, deren Intensität in der Weltliteratur Ihresgleichen sucht. Der künstlerische Anspruch, das „Universum in einer Nussschale“ darzustellen, wird hier ähnlich intensiv angegangen wie im „Ulysses“ von James Joyce, in den Werken Faulkners oder im Don Quijote. Nach der Lektüre des schmalen Romans „Pedro Páramo“ fühlt man sich, als habe man gerade das umfangreiche Epos eines Landes oder einer Epoche hinter sich. Es verwundert nicht, dass Gabriel García Márquez seinen Phantasie-Ort Macondo in „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit einigen Attributen ausstattete, die dem fiktiven mexikanischen Weiler Comala entlehnt zu sein scheinen. Möglicherweise wurde der Kolumbianer von Rulfo überhaupt erst dazu inspiriert, Geschichte und Desaster eines Dorfes zur Parabel für das Schicksal eines Landes, ja eines Kontinents zu machen.

11/2013





Carson McCullers


Mit 23 Jahren schrieb sie einen der großen Romane des vorigen Jahrhunderts, doch sollte ihre literarische Bedeutung nicht auf dieses eine Buch reduziert werden. Carson McCullers nannte ihr Erstlingswerk zunächst „The Mute“ (Der Stumme), änderte den Titel dann aber in „The Heart is a Lonely Hunter" (Das Herz ist ein einsamer Jäger) ab. Was zunächst etwas melodramatisch wirkt, gewinnt für den Leser an Berechtigung, je weiter er in die Tiefen und Wirrungen der Geschichte vordringt. In der Tat sind die Protagonisten ständig auf der Jagd nach Selbstverwirklichung, Gerechtigkeit, Liebe oder auch nur materieller Sicherheit, und sie versagen – jeder auf seine Weise – letztendlich, weil sie einsam bleiben.


Ein Südstaaten-Kaff am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Der gehörlose Graveur Singer ist so verbindlich und liest derart gut von den Lippen seiner Gesprächspartner ab, dass diese glauben, er verstünde alles, auch ihre innersten Beweggründe. Tatsächlich aber bleiben dem „Taubstummen“, der sich selbst nur schriftlich äußert, die Intentionen seiner hörenden Mitmenschen fremd. Diese wiederum werden nie erfahren, welcher Figur Singers ganze Zuneigung gehört und wie seine bescheidenen Hoffnungen ins Leere laufen.


Vor allem vier Personen von höchst unterschiedlicher Herkunft, Mentalität und Intention projizieren in den höflichen Mr. Singer ihre Wünsche und Sehnsüchte, fühlen sich von ihm ernstgenommen und erwarten sogar Rat und Hilfe von ihm. Da ist die Heranwachsende Mick Kelly, sprachlich und künstlerisch begabt, die nach einem Erweckungserlebnis durch klassische Musik inmitten einer provinziellen Umgebung von einer Karriere als Komponistin träumt, nebenher erste (wenig befriedigende) sexuelle Erfahrungen macht und wegen der materiellen Not ihrer Familie in der kleinstädtischen Woolworth-Filiale statt in den Konzertsälen der Welt landet. Da sehen zwei Männer, die beide gegen die Klassengesellschaft kämpfen wollen, bei der Diskussion über die Vorgehensweise aber zu Feinden werden, in dem Gehörlosen die einzig objektive Instanz: Der eine ist der schwarze Arzt Dr. Copeland, der sich, obwohl selbst schwindsüchtig, für seine Gemeinschaft aufopfert, gegen die Rassentrennung rebelliert, Spinoza liest, einem seiner Söhne die Vornamen Karl und Marx gibt und doch nicht einmal die eigene Familie von der Notwendigkeit politischer Aktion überzeugen kann. Jack Blount dagegen, ein teils hellsichtiger, teils im alkoholischen Delir versinkender Wanderagitator schafft es nicht, den Arbeitern in den Baumwollmühlen der Stadt ihre Lage zu verdeutlichen, sie im gewerkschaftsfeindlichen Süden zu mobilisieren. Der Cafeteria-Besitzer Biff Brannon fühlt sich ebenfalls zu Singer hingezogen, obwohl er sich als Einziger der Vier fragt, was der Gehörlose wirklich begreift und ob er tatsächlich irgendjemandem helfen kann. Aber auch Brannon, äußerlich ruhig und freundlich, wird nach dem Tod seiner Frau in aller Heimlichkeit von einem aussichtslosen Begehren heimgesucht.


Singer lässt die anderen ungetröstet und weitgehend hilflos zurück; er personifiziert in seiner seltsamen Abgehobenheit das Hauptthema des Romans: die emotionale und geistige Isolation. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ist kein Südstaaten-Panorama, ebenso wenig ein Sozial-Epos oder eine psychologische Studie, aber es verwendet Ingredienzen von all dem und verarbeitet sie zum großflächigen Bild einer verständnislosen Gesellschaft in düsteren Farben und mit erstaunlicher Tiefenschärfe. Der klare Stil und die pointiert-realistische Sprache sind von Sherwood Anderson beeinflusst, der mit dem Episodenroman „Vinesburg Ohio“ die US-Literatur von Pathos, Romantik und überflüssigen Schnörkeln befreite, Idee und Handlung indes verweisen bereits auf die Sujets späterer moderner Autoren des Existenzialismus oder sogar des absurden Theaters, von den Sinnfragen à la Camus und Sartre bis zur wortreichen Sprachlosigkeit Becketts. Carson McCullers hat ihr Werk im ruhelosen Wechsel zwischen Revolte und Depression, ziellosem Hass und unmöglicher Liebe, starrer Konvention, sozialer Ohnmacht und bitterer Armut angesiedelt: ein verstörendes Buch von enormer Bandbreite und gestalterischer Reife, ein poetisch-lakonisches Panoptikum menschlichen Scheiterns; wie eingangs erwähnt: der Roman einer 23jährigen! „Sie erkundete das menschliche Herz mit einem Einfühlungsvermögen, das kein Schriftsteller je übertreffen kann“, schrieb der Damatiker Tennessee Willams (u.a. „Endstation Sehnsucht“, „Die Glasmenagerie“).


Als Carson McCullers 1967 im Alter von 50 Jahren starb, hatte sie ein Leben voll emotionaler und gesundheitlicher Krisen hinter sich. Sie heiratete denselben Mann zweimal (und wurde anscheinend zweimal nicht recht glücklich mit ihm), musste ihre Pläne, Konzertpianistin zu werden, bereits mit 15 Jahren wegen einer rheumatischen Erkrankung aufgeben, erlitt schon vor dem 30. Geburtstag drei Schlaganfälle, musste gegen Depressionen ankämpfen und verbrachte ihre letzten Jahre im Rollstuhl. Manches aus der Biographie floss in ihre Prosa ein: So verzweifelt in der Erzählung „Wunderkind“ ein junges Mädchen, weil das musikalische Talent nach einer Krankheit verschwunden ist. Andererseits wollte die Schriftstellerin auch Gegenbilder zum kränklichen Ego zeichnen, indem sie eine Reihe physisch starker, energischer, zumindest äußerlich robuster weiblicher Gestalten schuf: Frankie im gleichnamigen Roman, die der Kindheit und häuslichen Einengung entkommen will, Mick Kelly in „Das Herz...“, die eigenwillig und mitunter noch ein wenig unreif ist, aber auch kreativ wie ihre Erfinderin, oder die unbesiegbare Miss Amalia in „Die Ballade vom traurigen Café“, deren unerklärliche Schwäche für einen perfiden Cousin ihre einzige, aber endgültige Niederlage einleitet.

  

Die letztgenannte Novelle wird von manchen Kritikern als der Höhepunkt im Werk der Autorin angesehen. Zwar mag sie minutiöser komponiert sein und stringenter auf eine Klimax zusteuern, doch denke ich, dass sich „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ durch die dort so vielschichtige wie ausufernde Phantasie seiner Autorin, durch ein breiteres inhaltliches Spektrum und eine präzisere Zeichnung einer anarchisch zusammengesetzten Gruppe von Menschen als ein größeres Stück Welt in der literarischen Nussschale (frei nach Joyce) erweist.


McCullers` zweiter Roman „Spiegelbild im goldenen Auge“ spielt in einer verschlafenen Garnisonsstadt, deren gute Offiziersgesellschaft bedacht darauf ist, Anstand und Moral nach außen hin zu wahren, während unter der Oberfläche Ehebruch und Demütigung an der Tages- und Nachtordnung sind. Jene für die US-Gesellschaft typische Bigotterie,die Erotik und sexuelle Ausrichtung leugnet und ächtet, entlädt sich schließlich in einer Explosion tödlicher Gewalt.


Sechseinhalb Jahre vor ihrem Tod veröffentlichte Carson McCullers ihren letzten Roman „Uhr ohne Zeiger“. Die eigene Krankheit und die Melancholie nach dem Selbstmord ihres Mannes haben wohl die Wahl des Eingangsthemas und die Charakterisierung der Hauptperson maßgeblich beeinflusst. Der Apotheker Malone erfährt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. In seiner Orientierungslosigkeit gerät er in ein bitteres Spiel zwischen dem sezessionistischen Richter Clane (dem einzigen Traditionalisten des Old Dixie, den die sonst strikt der Gegenwart verpflichtete McCullers in ihr Werk einführte), dessen die Rassenintegration propagierenden Enkel Jesper und dem jungen verwaisten Schwarzen Sherman, der durch seine blauen Augen auffällt und verzweifelt das Geheimnis seiner Herkunft aufdecken will. Die Reaktionen auf „Uhr ohne Zeiger“ fielen gemischt aus. „Zu schlicht, zu ruhig, zu unspektakulär“ urteilten die einen, „eine atmosphärisch dichte Bestandsaufnahme des Südens“ meinten andere. Was aber zweifellos beeindruckt, ist die scheinbare Beiläufigkeit, mit der das Ausklingen eines ereignisarmen Lebens im Milieu einer Kleinstadt beschrieben wird – das abgeklärte „Alterswerk“ einer 44jährigen Frau...


Zu den beeindruckendsten Texten der Nordamerikanerin zählen ihre 23 Erzählungen, von denen einige erst postum erschienen. In manchen leiden die Protagonisten unter Geisteseintrübungen, in anderen betrügen sie sich und andere selbst („MadameZilinsky und der König von Finnland“, „Brieffreundschaft“). In „Ein Baum, ein Felsen, eine Wolke“ offenbart ein Mann seine surrealen, transzendenten Liebesgefühle, während die Beobachterin am Fenster des „Hof in den West Eighties“ die sich über Monate hinziehende Tragödie eines jungen Paars quasi im Zeitraffer resümiert. Wie brutal die Rassentrennung das Leben in den Südstaaten prägt(e) und wie viel Mut es erfordert(e), dagegen zu kämpfen, macht die Story „Der Marsch“ deutlich. „Atem vom Himmel“ thematisiert die völlige Isolation einer von ihrer Familie vernachlässigten jungen Sterbenden. McCullers` Erzählungen ähneln in ihrer Gesamtheit einem magischen Kaleidoskop, nur dass die Farbgebung der meisten Facetten eher dunkel und gedämpft ausfällt.


Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis in seine 60er Jahre wurde die moderne Weltliteratur großenteils von US-Autoren, die schier unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten wahrnahmen, während die Politiker ihres Landes ungehemmte militärische und ökonomische Macht anstrebten, vorangebracht, darunter Sherwood Anderson, John Dos Passos, der frühe Hemingway, der junge Steinbeck und viele andere. Zu dieser glänzenden Gilde gehörte zweifellos auch Carson McCullers. Als Kronzeuge soll der große Südstaaten-Kollege William Faulkner zu Wort kommen: „Für mich gehört ihr Werk zu den besten unserer Zeit.“  

01/2014