Katherine Mansfield


Erzählungen, Geschichten, Shortstories gelten im deutschen Literaturbetrieb als Nebenprodukte der Prosa, die längere Werke flankieren. Will ein Autor bei einem Verlag debütieren, sollte er also einen Roman einreichen und – falls möglich – Beziehungen spielen lassen. Katherine Mansfield, die vor rund hundert Jahren die „kurze Form“ modernisierte, hätte in unserem Land wohl keine Chance, würde sie sich heute als Newcomerin versuchen. In der angelsächsischen Literatur aber gelten Erzählungen als wichtigste Belege für die Ausdruckskraft und das Stilgefühl von Schriftstellern. Deshalb gesteht man der Neuseeländerin heute transkontinentale Bedeutung zu.


Von der Pointenfixierung zur offenen Form


Erzählungen mit historischem Hintergrund und kürzere Geschichten mit pointiertem Ende waren lange Zeit eine Domäne nordamerikanischer Autoren. Edgar Allen Poe und Nathaniel Hawthorne hatten im 19. Jahrhundert ihre Leser mit meist phantastischen Stories von unheimlichen Ereignissen oder mit historischem Hintergrund, etwa der puritanischen Hexen-Hysterie in den ersten Siedlungen an der Ostküste, in ihren Bann gezogen. Wenig später erweiterte Hermann Melville das geistige und formale Spektrum der US-Literatur mit Erzählungen wie „Bartleby the Scrivener“, die nicht mehr auf das Ende hin zuspitzten, in denen nicht spannende Handlung und Schluss-Gag, sondern die rätselhafte Persönlichkeit und das obstruktive Verhalten des Protagonisten im Fokus stehen. Bis heute existiert in der Psychologie der Begriff des Bartleby-Syndroms, mit dem eine schwer zu deutende Verweigerungshaltung beschrieben wird.


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Pioniere der angelsächsischen Kurzprosa plötzlich aus Irland und Neuseeland: James Joyce schrieb zwischen 1904 und 1907 den Erzählungsband „Dubliners“, für den er erst 1914 einen Verleger fand; drei Jahre zuvor war die Geschichtensammlung „In a German Pension“ der erst 23 Jahre alten Katherine Mansfield in England erschienen. Beide Sammlungen unterschieden sich von den auf einen spannenden Plot und ein unterhaltsames wie überraschendes Ende angelegten gängigen Shortstories, etwa von O. Henry, Chesterton oder Doyle, durch eine minutiöse Zeichnung der Hauptfiguren, deren Unfähigkeit, ihre Gefühle auszudrücken und ihre Vorstellungen zu realisieren, zu den Hauptmerkmalen zählte – und häufig durch ein offenes oder ambivalentes Ende.


Mansfield, die Deutsch sprach, hatte ihr erstes Buch nach einem Aufenthalt in Bad Wörishofen, wo sie eine Fehlgeburt erlitt, geschrieben, eine manchmal skurrile, oft hintergründig satirische, bisweilen auch entlarvende Studie des Untertanengeistes und Biedersinns im wilhelminischen Kaiserreich. In den knapp zwölf Jahren ihres literarischen Schaffens sollte die Vielreisende ihre Geschichten in den vier Ländern, in denen sie sich am längsten aufgehalten und deren gesellschaftliche Eigenheiten sie besonders intensiv studiert hatte, ansiedeln. Neben Deutschland waren dies ihre Erstheimat Neuseeland, England und Frankreich, wo sie 1923 im Alter von 34 Jahren starb und in Fontainebleau, Ile-de-Francebegraben liegt.


Genie und Rebellin


Die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte die als Katherine Mansfield Beauchamp am 14. Oktober 1888 geborene Autorin in dem Dorf Karori und in der nahen Hauptstadt Wellington. Mit der Übersiedlung nach London, wo sie drei Jahre lang das Queen`s College besuchte, begann das unstete Leben, das sie bis zu ihrem frühen Tod führen sollte. Noch einmal kam sie für zwei Jahre nach Neuseeland zurück, das sie 1908 für immer verließ – auch das eine Parallele zu James Joyce, der seiner irischen Heimat 1912 den Rücken kehrte, um nie mehr zurückzukehren.


Mansfields Werk umfasst 74 Erzählungen in fünf Sammlungen (von denen zwei, „Das Taubennest“ und „Etwas Kindisches, aber sehr Natürliches“, postum erschienen) sowie 15 Geschichtenfragmente - macht zusammen in der englischen Gesamtausgabe 780 Seiten: kein umfangreiches Oeuvre, aber in seiner Modernität und diffizilen Sprache ein gewichtiges. Ihre scharfe Beobachtungsgabe, der konzise Blick hinter die biederen Kulissen des neuseeländischen Mittelstands oder auf die sinnentleerten Etiketten der damaligen Globetrotter-Szene sowie der scheinbar einfache, auf jede Emphase verzichtende Stil beeinflussten US-Autoren wie Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald und beeindruckten andere, darunter Sherwood Anderson oder William Faulkner.


Mit den meisten dieser amerikanischen Kollegen hatte Mansfield einen literarischen Paten gemeinsam, der einem ganz anderen Kulturkreis entstammte: Der Russe Anton Chekhov, der neben seinen Theaterstücken eine Reihe von lakonisch, oft resigniert anmutenden Erzählungen geschrieben hatte, in denen die Frustration und Einsamkeit ambitionierter, aber hilfloser Charaktere sowie das Scheitern des Individuums an der Gesellschaft und an der eigenen Unzulänglichkeit immer wieder variiert werden, gleichsam als Vorgriff auf jene desillusionierte Künstlergilde, die nach dem Ersten Weltkrieg in Paris als Lost Generation bekannt wurde.


So wirkt in Mansfields Erzählung „Miss Brill“ (aus der Sammlung „Das Gartenfest“) die Titelfigur, eine ältliche Dame in prekären Verhältnissen, die der erbärmlichen Realität trotzt, indem sie versucht, einen Hauch von Respektabilität zu wahren, wie eine Heldin Chekhovs, der die Selbsttäuschung zur rettenden Routine geworden ist. Konventionen ersetzen das „wirkliche Leben“, der Selbstbetrug wird zur letzten Daseinsstütze.


Doch Katherine Mansfield bewies – hier weit über Chekhov und die meisten US-Kollegen hinausgehend - in einigen Geschichten ein untrügliches Gespür für soziale Ungerechtigkeit. Sie klagte nicht an, sondern beschrieb die Kluft zwischen den Klassen so genau und schonungslos, dass der Leser zur Parteinahme gezwungen wird. Wenn etwa in „Das Puppenhaus“ (aus „Das Taubennest“) aus der Perspektive von Kindern ein für allemal geklärt wird, wer arm und wer reich ist und es bleiben wird, wer seinen Bildungsweg gehen darf und wer in Dummheit zu verharren hat, wird deutlich, wie grundlegend Literatur das herrschende System bloßstellen kann, ohne plakativ zu wirken. 


In „Das Gartenfest“ aus der gleichnamigen Sammlung gerät der Versuch einer gutsituierten Party-Gesellschaft, der Familie eines verunglückten Arbeiters Mitgefühl zu zeigen, indem man ihr die Essensreste der Fete in einem Geschenkkorb sendet, zur bitteren Farce. Im selben Band endet „Life of Ma Parker“, die Story einer alten Putzfrau, die buchstäblich nie Zeit für „Freizeit“ oder Reflexion hatte, weil sie sechs Kinder in ärmlichen Verhältnissen aufziehen und daneben für fremde Herrschaften schuften musste, nun ihren Enkelsohn auf der Straße betrauert, weil sie keinen Ort hat, wo sie weinen könnte, mit den kargen Worten: „And now it began to rain. There was nowhere.“


Die beiden längsten Erzählungen der Autorin, „Präludium“ und „An der Bucht“ stehen am Anfang der Sammlungen „Glück“ und „Das Gartenfest“ und berichten vermeintlich Belangloses aus dem Leben der Burnells. Zwei kleine Mädchen, Kezia und Lottie, erleben in der ersten Story den Umzug der Familie und in der zweiten das anscheinend sorglose Leben am Strand. Unter der heiteren Oberfläche aber gärt es. Die junge Tante Beryl sehnt sich heimlich nach sexueller Erfüllung, die Mutter wirkt überfordert und fragil, und für die Zukunft der unbeholfenen und schüchternen Lottie wird der Leser schon bald nichts Gutes ahnen.


Wie souverän Mansfield die unterschiedlichsten Szenarien und Regionen und den Slang ihrer Bewohner darstellen konnte, belegt die Erzählung „The Woman at the Store“ (in „Something Childish“) aus dem Hinterland ihrer Heimat. Diese raue Geschichte, in der ein düsteres Geheimnis enthüllt wird, nimmt die karge, atmosphärisch dichte Erzähltechnik vorweg, der sich Jahrzehnte später Hemingway oder Steinbeck bedienen sollten.  


Lange unterschätzt, bald wieder vergessen?


In der Londoner Literaturszene hatte sich Katherine Mansfield u. a. mit dem naturalistischen Romancier D.H. Lawrence („Lady Chatterley“) angefreundet. Vor allem aber mit Virginia Woolf, der neben ihr wohl bedeutendsten Schriftstellerin dieser Zeit, korrespondierte sie bis zu ihrem Tod, wobei die beiden Autorinnen sowohl Freundinnen als auch streitende und sich gegenseitig kritisierende Konkurrentinnen waren. So warf Mansfield, deren Werk durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, in dem ihr Bruder fiel, an Tiefe gewonnen hatte, ihrer Kollegin vor, ihre impressionistische Prosa sei nicht modern und realistisch genug. Als sie an der sechs Jahre zuvor diagnostizierten Tuberkulose, der „klassischen“ Künstlerkrankheit, starb, traf dies Virginia Woolf schwer. Sie notierte, es habe „keinen Sinn mehr, noch etwas zu schreiben … Katherine wird es nicht lesen – Katherine ist nicht länger meine Rivalin.“


Obwohl Katherine Mansfield von ihren Kollegen hoch geachtet wurde, verweigerten ihr in Großbritannien die Kritiker zunächst den ihr zustehenden Platz  im Kanon der angelsächsischen Literatur. Dies lag weniger daran, dass sie vom „falschen“ Geschlecht war, als am künstlerischen Herzland-Zentrismus. London mit dem umgebenden England war für viele Kulturredakteure immer noch der Mittelpunkt der Welt, was aus den Kolonien, aus Kanada, Australien, Neuseeland oder Indien kam, konnte bestenfalls zweitrangig sein.


So ist es wohl der feministischen Literaturkritik zu verdanken, dass die Bedeutung der Autorin, die Stereotypien sowie Rollenklischees der Ehe bloßgestellt und die sexuellen Ängste (und Wünsche) der Frauen subtil charakterisiert hatte, vor allem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erkannt wurde. Auch Mansfields eigenwillige Lebensführung dürfte neben ihren progressiven Stories zu dem damals neu erwachten Interesse beigetragen haben.


Bereits von einem neuseeländischen Freund ihrer Familie schwanger, heiratete sie 1909 ihren Gesangslehrer George Bowden, nur um sich nach missglückter Hochzeitsnacht von ihm zu trennen. Neun Jahre später ging sie, schon von der TBC gezeichnet, eine weitere Ehe mit dem Literaturkritiker Middleton Murry ein und verbrachte ihre letzten Jahre in einer Menage à Trois mit ihm und ihrer Geliebten Ida Banks – eine Konstellation, die damals allgemein als skandalös empfunden wurde und aus heutiger Sicht von gelebter Emanzipation zeugt.


In unserer reizüberfluteten und digital-medial geprägten Zeit geraten die großen Autoren der Vergangenheit immer schneller ins Abseits und werden nicht mehr aufgelegt. Manche sind nie vollständig oder nur unzulänglich ins Deutsche übersetzt worden. Das Werk von Katherine Mansfield liegt (noch) vor; es wäre ein Verlust für das globale literarische Gedächtnis, wenn diese einzigartige Stimme aus dem Südpazifik allmählich in Vergessenheit geraten sollte.

 

06/2020