Schweizer Aufbegehren
Cartoon: Rainer Hachfeld


Die Umwelt- und Klimaschutzpolitik sollte eigentlich für alle Politiker in Europa oberste Priorität besitzen, vor allem aber für Regierungsmitglieder. So müssen Kanzler und Minister hierzulande feierlich schwören, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, was wohl auch beinhaltet, das Leben in einer intakten Umgebung und Natur zu garantieren. Leider aber wandelt der Einfluss der Automobil-, Chemie- und Agrar-Lobbyisten die ministeriellen Schwüre nach und nach zu Meineiden um. Das war bisher folgenlos, doch ein Blick über unsere Grenzen zeigt, dass dies nicht so bleiben muss.


Alles gut an der Alpenfront?


Die Schweiz könnte, oberflächlich betrachtet, als ein Stück heile Welt durchgehen: Die markantesten Alpengipfel, saftig-grüne Weiden, traumhafte Seen, kulinarische Köstlichkeiten vom delikaten Käse über guten Wein bis hin zur weithin geschätzten Schokolade sowie rustikaler Gemeinsinn bilden die Puzzleteile eines Postkarten-Idylls. Die Eidgenossen gelten als fleißig, freiheitsliebend und heimatverbunden, dennoch hat ein helvetischer Verband den eigenen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verklagt – und Recht bekommen.


Wie üblich hat auch die Biedersinn und Ehrlichkeit ausstrahlende Medaille der Schweizer Gemeinschaft ihre dunkle Kehrseite. Tatsächlich geht es den Bürgern materiell vergleichsweise gut, doch speist sich der Wohlstand aus dubiosen Quellen. Lange Zeit waren die Banken in Zürich oder Genf für ihre Verschwiegenheit berühmt, was weltweit Steuerbetrüger, Geldwäscher, Kleptokraten und Diktatoren dazu bewog, ihre Milliarden in die sichere Schwyz zu schaffen, wo sie keine Zinsen bekamen, sondern Schweigegeld zahlen mussten.


Gleichzeitig beackerten die Pharma- und Lebensmittelkonzerne des neutralen Landes den Globus, insbesondere die Dritte Welt, mit skrupellosen Methoden, um Höchstprofite einzustreichen. Und die von Touristen gepriesene (und bisweilen belächelte) Bodenständigkeit der Eidgenossen äußerte sich darin, dass fast 30 Prozent der Wähler die rechtsextreme SVP zur stärksten Partei machten, darüber hinaus in Fremdenhass, Borniertheit und Diskriminierung von behinderten Menschen (von den Chauvinisten oft abschätzig als „Sozialrentner“ bezeichnet).


Streitbare Pantherinnen


In einem von bedenkenlosem Geschäftssinn und kalvinistisch geprägtem Erfolgszwang geprägtem Klima haben Umweltschützer schlechte Karten, tragen sie doch nicht unmittelbar zum pekuniären Reichtum bei und stören eher bei der Ausbeutung von Mensch und Natur. Dem trug der Bundesrat (so heißt die Regierung in der Hauptstadt Bern) Rechnung und formulierte äußerst vorsichtige Klimaziele, nur um selbst diese zu verfehlen.


Hier traten nun die KlimaSeniorinnen Schweiz auf den Plan und riefen den EGMR in Straßburg mit folgender Begründung an:


„Wir fordern eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Klimapolitik. Unser Ziel ist es, dass der Staat seine Schutzpflichten uns gegenüber wieder wahrnimmt und ein Klimaziel verfolgt, das der Anforderung genügt, eine gefährliche Störung des Klimasystems zu verhindern. Wir fordern zudem umfassendere, auf dieses Ziel angepasste Massnahmen und eine bessere Umsetzung der bereits beschlossenen Massnahmen.“ (Anm.: kein ß in der Schweizer Schriftsprache)


Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die – wie etwa die Grauen Panther – alten Menschen mehr Einfluss verschaffen wollten, prangern die KlimaSeniorinnen Vergehen an, die nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa, ja den ganzen Globus sowie alle Generationen betreffen. Und die Richter des EGMR folgten ihrer Begründung und urteilten, dass unzureichende Klimapolitik einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstelle. Alle 46 Vertragsstaaten des  Europarats seien verpflichtet, „Maßnahmen in der Praxis zu ergreifen, die dazu geeignet sind, die gegenwärtigen und möglicherweise irreversiblen Effekte des Klimawandels zu begrenzen“. Im Übrigen seien die Treibhausemissionen innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte auf Netto-Neutralität zu reduzieren.


Konkret hatten die KlimaSeniorinnen angezeigt, dass die Schweiz bis 2030 die Emissionen lediglich um 34 Prozent unter das Niveau von 1990 wollte (zum Vergleich: Dänemark 70 %, die gesamte EU 55 %), aber selbst daran scheiterte. „Der Bund verletzt somit die Bundesverfassung (Vorsorgeprinzip und Recht auf Leben) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)“, folgerten die Klägerinnen.
Die höchste Instanz des Kontinents hat sich nun mit der Verurteilung des Schweizer Staates unmissverständlich auf die Seite der Klimaschützer gestellt. Bleibt die Frage, wie die einzelnen Staaten und ihre Justiz auf diese bindenden Vorgaben reagieren.




















Noch bevor der Meisterschütze Wilhelm Tell eingreifen konnte, traf den wackeren Schweizer Bürger der öko-juristische Hexenschuss von hinten. 



Passiert etwas? Wird alles ausgesessen?


Zwar haben sich alle Mitgliedsstaaten des Europarats der Rechtsprechung des EGMR unterworfen, die also auch für die Justiz der einzelnen Länder verbindlich ist, doch wird die Bedeutung der Menschenrechtskonvention unterschiedlich gewichtet. Ziemlich sicher dürfte sein, dass NGOs und Klimaschützer jetzt verstärkt ihre heimischen Gerichte anrufen werden, wer aber in einem süßen Traum Verkehrsminister Wissing bereits in Handschellen sieht, dürfte sich täuschen.


Der Straßburger Gerichtshof besitzt nämlich keine Exekutivbefugnisse. Immerhin kann er Restitutionen in Form von Entschädigungszahlungen gegen einen verurteilten Staat verhängen, was auch nötig sein wird. Denn ohne Strafbeschwerung bei fahrlässiger bis krimineller Unterlassung  geschieht seitens der Regierungen eher nichts, wie das Beispiel des vom Bundesverfassungsgericht im März 2021 verkündeten Beschlusses, dass ungenügende Klimapolitik die Grundrechte der künftigen Generationen verletzt, belegt. Die im Grunde richtungsweisende Entscheidung ging spurlos an FDP, Union, SPD und später auch den Grünen in Regierungsverantwortung vorbei.


Das noch gewichtigere Urteil des EGMR sollte daher in immer neuen Fällen und Verfahren von der deutschen Rechtsprechung angewandt werden, ebenso von Naturschutzverbänden, Petitionsplattformen und NGOs wie der Deutschen Umwelthilfe – schon damit unsere Schweizer und Straßburger HeldInnen nicht umsonst in Vorleistung gegangen sind. Und dann ist zu hoffen, dass die Medien die folgenden juristischen Auseinandersetzungen nicht verschlafen und so versäumen, die Verantwortlichen in der Politik zu wecken.


04/2024


Dazu auch:


Braver Trotzkopf im Archiv der Rubrik Politik und Abgrund (2023)