Der Stadtreiniger


Vor langer Zeit wurden wir im Unterricht mit Bonmots und Binsenweisheiten drangsaliert, anhand derer wir die süßen Geheimnisse der lateinischen Grammatik entschlüsseln sollten. Damals waren wir der Überzeugung, dass uns dergleichen Sinnsprüche für das künftige Leben wenig bis gar nicht nützen würden. Weit gefehlt: Unser Bundeskanzler machte mir unlängst klar, dass römische Formulierungskunst so manche zeitgemäße Empfehlung enthält.


Doppelter Merz sorgt für Ernüchterung


Dem spätantiken Gelehrten Boëthius wird der Merksatz „Si tacuisses, philosophus mansisses“ zugeschrieben, den man/frau etwa so in legeres Umgangsdeutsch übertragen könnte: „Hättest du deinen Mund gehalten, wärst du als Checker durchgegangen". Nun hatte Friedrich Merz kürzlich ein paar sachlich richtige Bemerkungen zur AfD und deren Verhältnis zur Christen-Union von sich gegeben, danach aber versäumt, die Klappe wieder rechtzeitig zu schließen.


Was waren wir doch angenehm überrascht, dass sich der hochgewachsene, hagere, einer Stabheuschrecke nicht unähnliche Kanzler anlässlich einer Unionsklausur in Berlin sowie in seinem NRW-Wahlkreis (zunächst) glaubwürdig von den rechtsextremen Mitbewerbern distanzierte und deren Strategie in Teilen korrekt darstellte: Er lehne eine Zusammenarbeit mit der AfD ab und halte das Argument, dass die CDU mit ihr viel zusammen durchsetzen könnte, für falsch, denn die Partei stelle nicht nur die Politik der letzten zehn Jahre in Frage, sondern deutsche Grundsatzentscheidungen seit 1949. „Die von der AfD immer wieder bemühte ‚ausgestreckte Hand‘ ist in Wahrheit eine Hand, die uns vernichten will. Sie sagt es ja genauso selbst.“


Wir staunten. Sollte der deutsche Ex-Statthalter des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock, der mit den Geldern der Superreichen Konzerne und Branchen „saniert“ und pusht, um kurzfristig ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze, Standorte oder Umweltstandards Gewinn abzuschöpfen und dann weiterzuziehen, dieser empathielose Neoliberale also, zum Antifaschisten mutiert sein?


Wohl nicht, denn am 14. Oktober bewies Merz in Brandenburg, dass er zwar den Machtbestrebungen der AfD entgegentritt, deren Inhalten und Propagandamethoden jedoch einiges abgewinnen kann. Er erklärte, was den aufrechten Deutschen umtreibt und warum Abschiebung ein Allheilmittel ist:


„Bei der Migration sind wir sehr weit. Wir haben in dieser Bundesregierung die Zahlen August 24, August 25 im Vergleich um 60 % nach unten gebracht, aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen. Das muss beibehalten werden, das ist in der Koalition verabredet.“


Solange also noch menschlicher Müll aus der Fremde das romantische Panorama unserer altdeutschen Städte verschandelt, soll Chef-Exekutor Dobrindt alle notwendigen Maßnahmen optischer Rassenhygiene ergreifen. Würde das Substantiv Rückführungen durch den moderneren und umfassenderen Begriff Remigration ersetzt, könnte der Satz ein Stück von Alice Weidel sein.


Das Stadtbild und die Töchter


Wir wollen jetzt gar nicht darüber nachdenken, wie unser Land, seine Industrie, der Dienstleistungssektor, die Kliniken oder die Altenpflege ohne den migrantischen Störfaktor, den Friedrich Merz mit bloßem Auge auf den Marktplätzen zu erkennen glaubt, aussehen würden; also ohne türkische Facharbeiter, indische Programmierer, syrische Ärzte oder afrikanische Reha-Kräfte etc. Es interessiert uns mehr, ob es sich bei der Äußerung des Langen Friedrich um eine seiner berüchtigten verbalen Entgleisungen im BILD-Jargon handelte, oder ob Kalkül und System dahinterstecken.


Tatsächlich gibt sich Merz rechthaberisch und weigert sich, den fatalen Satz zurückzunehmen. Als sei für ihn die Abschiebung fremdländisch aussehender Mitmenschen ein probates Mittel, den Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ zu gewinnen, legte er wenige Tage später sogar noch nach. Viel Zustimmung habe er für seine Äußerung bekommen, sagte er, was angesichts der weit verbreiteten Xenophobie hierzulande glaubhaft erscheint, und schlug vor: „Fragen Sie ihre Kinder, fragen Sie ihre Töchter, fragen Sie im Freundes- und Bekanntenkreis herum: Alle bestätigen, dass das ein Problem ist – spätestens mit Einbruch der Dunkelheit.“ Dabei deutet er dezent an, dass Andersfarbige generell potentielle Vergewaltiger sind. Bei seinen beiden Töchtern wird er angesichts des schütteren Migrantenbefalls des heimatlichen Hochsauerlands (nur gut zehn Prozent in seinem Geburtsort Brilon und an seinem Wohnsitz Arnsberg) wohl eher befürchtet haben, dass sie irgendwann mit Latin Lovers in der elterlichen Wohnung aufkreuzen.


Abgesehen davon, dass in der Dunkelheit bekanntlich alle Katzen grau sind und die für Merz scheinbar hässlichen schwarzen, braunen, gelben Visagen das Stadtbild nicht mehr trüben können, führt die beinahe hysterische Fokussierung auf Ausländerkriminalität in die Irre, zumal dieses Phänomen häufig auf fehlende Integration zurückzuführen ist. Noch immer finden die meisten Gewaltverbrechen innerhalb von urdeutschen Familien, am Rande von Bierfesten und Bundeligaspielen oder durch Angriffe aus dem rechtsradikalen Milieu statt. Aber diese Täter mit über Generationen zurückreichendem germanischem Stammbaum kann Merz halt nicht 
in den Krieg, ins Elend oder einfach ins Mittelmeer zurückschicken.


Punktuell die Reihen fest geschlossen


Wieder einmal hat sich Friedrich Merz verbal und gedanklich vergaloppiert. So wie bei seinem Vorschlag, die Steuererklärung zu einer Bierfilz-Kritzelei zu verschlanken, geht auch diesmal seine Milchmädchenrechnung nicht auf, sich formal von der AfD zu distanzieren, aber ihr Vokabular für die aufgeputschten Massen zu übernehmen. Die von Vorurteilen geplagten potentiellen AfD-Wähler erkennen nämlich sehr wohl, bei wem das Copyright für solche diskriminierenden Plattitüden liegt bzw. wer diese nur nachplappert, und sie können unterscheiden zwischen steinreichen Erz-Reaktionären mit arrogantem Habitus und echten rassistischen Rabauken.


Profitieren werden von den Merz’schen Ausfällen also vor allem die AfD-Vordenker, wovor auch gemäßigtere Pateifreunde ihn schon gewarnt haben. Das Original wirkt bei Fremdenhasskampagnen einfach glaubwürdiger. Was aber Sorgen macht, ist eine klammheimliche Annäherung von AfD- und Unionspositionen bei etlichen aktuellen Streitpunkten: Schwarze Christen und blaue Rechtsradikale schieben liebend gern ab, wollen in der EU die Maßnahmen gegen den Klimawandel bremsen oder ganz stoppen, halten den Schutz der Umwelt im eigenen Land für vernachlässigbar, sind gegen die Vermögenssteuer und möchten lieber bei Bürgergeldempfängern sowie Rentnern sparen und so weiter.


Mag sein, dass der ruppige Umgangston und die Radikalrhetorik der AfD-Funktionsträger die Mehrheit der CDU-Mitglieder abschreckt (während die CSU diese Stilmittel immer schon in ihrem Repertoire hatte), doch die inhaltlichen Gemeinsamkeiten sind unübersehbar. Kürzlich behauptete Merz allerdings: „Es trennen uns von der AfD grundsätzliche Fragen und grundsätzliche politische Überzeugungen.“


Trifft das wirklich noch für viele wichtige Bereiche der aktuellen Politik zu?


10/2025


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